An meinem „Wörterbuch Estnisch-Deutsch“ habe ich viele Jahre gesessen. Wie kam es zu einem so aufwendigen Projekt? Und war das überhaupt notwendig?

Von Dr. Berthold Forssman

Wie kommt man eigentlich dazu, ein Wörterbuch zu schreiben? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Entweder ist es eine Auftragsarbeit für einen Verlag oder im Rahmen eines bestimmten Projekts, oder es geschieht aus Eigeninitiative. Für mich begann es damit, dass ich während eines Estnisch-Kurses in Tartu begann, Wörter in Vokabelhefte zu schreiben und mit grammatischen Endungen zu versehen, die für die korrekte Formenbildung im Estnischen unerlässlich sind. Natürlich machte ich dabei Fehler, manche Wörter schrieb ich immer wieder auf, weil ich sie mir nur schlecht merken konnte, und das Material wurde mit der Zeit immer reichhaltiger, aber auch immer unübersichtlicher. Statt auf Karteikarten umzusteigen, begann ich irgendwann, die Hefte abzutippen: Im Computer ließen sich die Fehler leicht ausbessern, und die Ausdrucke konnte ich auch im Zahnarztwartezimmer, in der S-Bahn oder am Strand korrigieren und so ständig üben.

Forssman Übersetzer Holzhaus in Tartu
Forssman Übersetzer Chor der Domruine Tartu

Warum ein ganzes Wörterbuch?

Je umfangreicher die Sammlung wurde, desto konkreter wurde die Idee einer Publikation. Wenn ich davon berichtete, erhielt ich als Reaktion häufig die erstaunte Frage: „Gibt es so etwas denn noch nicht?“ Die einfachste Antwort war dann: „Schau doch einfach mal in einer großen Buchhandlung nach.“ Wörterbücher sind nichts Selbstverständliches, und es gibt sie bei Weitem nicht für alle Sprachen, sondern meistens nur für die größeren oder häufiger gelernten und unterrichteten Sprachen, denn bei einer zu kleinen Auflage ist ein solches Projekt für den Verlag oft nicht rentabel genug.

Gab es das wirklich noch nicht?

Es gibt Sprachen, die nur wenig oder gar nicht erforscht und auch noch nicht verschriftlicht sind. Hier leisten die Forscher wirklich Pionierarbeit, und oft beginnt so etwas erst einmal mit einer Wörterliste. Der Unterschied zwischen einer solchen reinen Wörterliste und einem richtigen Wörterbuch ist aber deutlich größer, als oft vermutet wird. Nicht immer gibt es eine 1:1-Entsprechung wie bei „Tisch“ oder „Auto“. Um ein paar deutsche Beispiele zu nehmen: Ich kann mein Taschentuch „finden“, aber auch etwas gut „finden“. Aus etwas kann ein Problem „erwachsen“, aber es kann auch jemand „erwachsen“ werden. Das Wort „Tag“ kann als Gegensatz zu „Nacht“ verwendet werden, aber auch einen Kalendertag mit 24 Stunden bezeichnen. Macht das die jeweils andere Sprache wirklich auch genauso? Ein Wort in der einen Sprache kann folglich zwei oder mehr Entsprechungen in der anderen haben und umgekehrt. Spätestens hier gehen die Interessen der Nutzer auseinander, ab hier sind Hinweise für die Fremdsprache nützlich oder sogar notwendig. Aber um die Frage zu beantworten: Ja, es gab schon Wörterbücher Estnisch-Deutsch. Doch waren sie in Estland erschienen und für die Bedürfnisse estnischer Muttersprachler gemacht. Dass „nehmen“ ein starkes Verb ist (nehmen – nahm – genommen, 3. Person nimmt), dass „Nacht“ ein Femininum ist („die“) und einen Plural „Nächte“ bildet oder dass „versuchen“ auf der zweiten Silbe betont wird, sind für mich überflüssige Angaben. Gerne hätte ich vielmehr solche Hinweise zum Estnischen gehabt, und die fehlten, weil sie für die Esten nicht nötig sind. Damit aber wurde das Nachschlagen zu einer mühsamen und zeitraubenden Arbeit.

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Und warum macht man so etwas?

Tatsächlich war es viel Fleißarbeit, die Grammatikendungen zu ergänzen, veraltete Bedeutungen herauszufiltern und neue Wörter aufzunehmen, aber der Lerneffekt war gigantisch. Die Recherchen waren oft mühsam, aber auch erhellend. Die traumhafte Sicherheit in Wortschatz und Grammatik möchte ich heute nicht mehr missen, und viele allgemeine Erkenntnisse konnte ich im Rahmen meiner Übersetzertätigkeit, für andere Wörterbücher und für sonstige Sprachstudien verwenden. Und natürlich macht es Spaß, sich selbst im Buchladen stehen zu sehen, und als ich mich einmal auf einem Botschaftsempfang mit Namen vorstellte, fragte mein Gesprächspartner sofort: „Forssman? Sind Sie etwa der mit dem Wörterbuch?“

Siehe hierzu auch:
Was macht ein Wörterbuch aus?
Ein Plädoyer für lateinische Grammatikbegriffe!
Sprachenlernen ohne Grammatik, ohne Mühe und in 30 Tagen?
„Wie schwierig ist Estnisch?“

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!