Die zehn Kriminalromane des schwedischen Autorenehepaars Maj Sjöwall und Per Wahlöö und ihr Kommissar Martin Beck genießen inzwischen international Kultstatus. Und in der Tat: Die Bücher sind eine Lektüre der ganz besonderen Art.

Von Dr. Berthold Forssman

Durch Zufall bekam ich als Jugendlicher einen Krimi in die Hand. Der Titel „Die Tote im Götakanal“ klang zunächst vielversprechend, aber mein erster Eindruck war eher enttäuschend, denn ich war die Salonkrimis von Agatha Christie gewöhnt. Da hatten sich in der Regel in einem feudalen englischen Ambiente mehrere Leute versammelt, von denen einer nach dem anderen ermordet wurde. Fast jeder kam als Täter in Frage, und am Ende war die Lösung trotzdem so genial, dass nur ein Hercule Poirot oder eine Miss Marple darauf kommen konnte. Bei „Die Tote im Götakanal“ (schwedischer Titel: „Roseanna“) stand dagegen nicht die Lösung im Mittelpunkt: Vielmehr ging es um den tristen Alltag ganz normaler Polizisten in einer als trostlos geschilderten Großstadt namens Stockholm. Die Aufklärung des Sexualmords kam am Ende nicht als Überraschung einher, sondern war eher bedrückend wie der ganze Fall.

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Woher dann die Faszination?

Nach und nach las ich mich durch die ganze zehnbändige Serie durch, denn natürlich waren die Bücher spannend, nur eben auf eine ganz andere Art und Weise, als ich das gewohnt war. Maj Sjöwall und Per Wahlöö gehörten zu den ersten Autoren überhaupt, die in ihren Krimis den realistischen Polizeialltag schilderten. Martin Beck und seine Kollegen lösen die Fälle nicht durch Genialität oder „kleine graue Zellen“ à la Hercule Poirot, sondern durch Gründlichkeit und Beharrlichkeit. Nur allzu oft menschelt es aber auch: Berichte werden nachlässig abgefasst, wichtige Beweisstücke gehen verloren, Täter entkommen, weil Streifenpolizisten gerade eine Kaffeepause eingelegt haben. Oft genug ist es am Ende nur der Zufall, der einer ins Stocken geratenen Ermittlung zum Durchbruch verhilft: Ein mutmaßlicher Täter wird aufgrund eines unscharfen Fotos von einem Polizisten in seiner Mittagspause auf der Straße wiedererkannt, ein kleiner Junge findet beim Spielen am Strand ein wichtiges Beweisstück, ein Polizist erinnert sich auf einmal wieder an den Anruf einer neugierigen alten Dame. Oder es stellt sich heraus, dass ein Notruf nur deshalb untergegangen ist, weil zwei Straßen im Großraum Stockholm denselben Namen tragen, aber zu verschiedenen Verwaltungseinheiten gehören. Und dann gibt es eben auch einen ganz besonderen Humor. Als die Polizisten nach der Ermordung eines Filmproduzenten einen seiner billig(st) aufgemachten Erotikstreifen ansehen und sich wundern, wie man mit einem solchen Machwerk Millionen verdienen kann, kommentiert einer der Ermittler die Szene mit dem nackten Liebespaar am Lagerfeuer: „Lachs ist natürlich teuer. Sie hätten ja auch eine Wurst grillen können.“

Schwedisch lernen mit Sjöwall / Wahlöö

Bald kannte ich meine Lieblingsbücher der Serie halb auswendig und hatte gerade begonnen, nebenbei Schwedisch zu lernen. Also besorgte ich mir die Originale und entwickelte intuitiv Methoden zum Sprachenlernen, die ich immer weiter verfeinerte und bis heute gerne anwende. Was am Anfang nur „Schwedisch für den Urlaub“ werden sollte, wurde somit zur Leidenschaft und später mein Studienfach. Spannend waren für mich auch die Besuche der Originalschauplätze. In Budapest sah ich das Thermal- und Wellenbad, in dem Martin Beck einst auch in „Der Mann der sich in Luft auflöste“ saß und mit seinem ungarischen Polizeikollegen plauderte, und in Stockholm sah ich am Kai die Fahrpläne für die Touren auf dem Götakanal. Die sechsteilige Verfilmung aus den neunziger Jahren schätze ich, auch wenn der viel zu schlanke Darsteller von Lennart Kollberg überhaupt nicht zu meinen Vorstellungen passt. Dafür kann ich mich mit Gösta Ekman als Martin Beck durchaus anfreunden, vor allem aber mit Rolf Lassgård in der Rolle als versnobbter Gunvald Larsson mit seinen wunderbaren Flüchen. Die späteren Krimis der Serie „Kommissar Beck“ finde ich teilweise spannend, aber bis auf ein paar Namensgleichheiten haben sie nichts mehr mit ihren Vorlagen zu tun.

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Begegnung mit Maj Sjöwall

Wie aber kamen Maj Sjöwall (1935-2020) und Per Wahlöö (1926-1975) zu ihren Geschichten? Und wie schreiben zwei Personen gemeinsam ein Buch, ohne dass es ständig inhaltliche und stilistische Brüche gibt? Inzwischen gibt es darüber zahlreiche Berichte, aber als ich die Bücher kennenlernte, verfügte ich über keinerlei Informationen. Doch dann hatte ich das Glück, Maj Sjöwall bei einer Autorenlesung kennenzulernen, und das Fanpublikum war reichlich vertreten und stellte viele Fragen. Maj gab bereitwillig Auskunft, und es war faszinierend, von ihr selbst zu hören, wie sie heimlich in Polizeistationen eingedrungen war, um Fälle zu studieren, und wie sie sich mit ihrem Mann über den Handlungsablauf absprach und sich beide dann beim Schreiben abwechselten. Zum Glück hatte ich daran gedacht, ein Buch zum Signieren mitzunehmen, und als ich Maj dann auch noch erzählte, dass ich nicht nur mit ihren Büchern mitgefiebert hatte, sondern auch mit ihr und vielleicht sogar ihretwegen Schwedisch gelernt und Skandinavistik studiert hatte, nahm sie mich spontan in den Arm.

Siehe hierzu auch:
Schwedisch: wirklich alles wie im Deutschen?
Mit Fahrrad und Zelt durch Schweden
Die Romane von Bo Balderson: Schwedenkrimis und wunderbare Politsatire
Filme übersetzen: Spaß und Herausforderung in einem

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!