Singen ist bei uns im Alltag weitgehend aus der Mode gekommen. Ganz anders dagegen in Lettland: Dort sind Volkslieder ein unverzichtbarer Bestandteil der Alltagskultur – und die Grundlage für die bekannten Sängerfeste.

Von Dr. Berthold Forssman

Lettland ist berühmt für seine Sangesfreude: Auf jeder Feier werden Lieder angestimmt, regelmäßig werden Sängerfeste abgehalten, und es gibt unzählige Chöre. Woher aber stammen die Lieder dazu? Die Volkslieder (auf Lettisch „Tautasdziemas“ oder „Dainas“) gelten geradezu als grundlegender Bestandteil der Kultur, und sie sind mehr als pure Folklore: Es gibt Lieder für so gut wie jede Stimmung und Lebenslage, und in den Dainas finden sich sogar Spuren der alten heidnischen Mythologie wieder.

Der „Vater der Dainas“

Erst im 19. Jahrhundert endete die Unterdrückung der genuinen lettischen Kultur, und der Wissenschaftler Krišjānis Barons (1835-1923) erkannte die große Bedeutung der Volkslieder als Kulturgut. Am Ende sammelte er über zweihunderttausend von ihnen, wobei Schätzungen davon ausgehen, dass ihre Gesamtzahl deutlich höher liegt. Zur Systematisierung ordnete Barons die Lieder in einem eigens dafür konstruierten Schrank, der heute in der lettischen Nationalbibliothek in Riga bewundert werden kann – und der zusammen mit den Sängerfesten den Sprung auf die UNESCO-Weltkulturerbeliste geschafft hat.

1873 wurde erstmals ein Sängerfest in Riga veranstaltet, und danach fand es außer während der Zeit der Weltkriege alle fünf Jahre statt. 2023 war somit ein ganz besonderes Jubiläumsjahr mit einer Rekordzahl an Teilnehmern und Besuchern. Auf dem Programm steht seit 1948 auch Volkstanz, und der Titel der Veranstaltung heißt nun vollständig „Vispārējie latviešu Dziesmu un Deju svētki“ (gesamtlettisches Lieder- und Tanzfest). Die Feste fanden auch während der sowjetischen Besatzung (1945-1991) statt, wenngleich bestimmte Lieder verboten waren, allen voran natürlich die lettische Nationalhymne.

Die „singende Revolution“

Mit dem Amtsantritt von Gorbatschow 1985 lockerte sich der Druck auf Lettland, und das Sängerfest 1988 wurde zu einer gewaltigen Manifestation gegen das Sowjetregime. Es kam zu Demonstrationen, und zu den Forderungen gehörte schon bald die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Lettlands. In den ebenso sangesfreudigen Nachbarländern Estland und Litauen gab es eine ähnliche Entwicklung, und so entstand der Begriff von der „singenden Revolution“, die ihren Höhepunkt in der Bildung einer 600 Kilometer langen Menschenkette von Vilnius bis Tallinn mit geschätzt eine Million Teilnehmern erreichte. Gemeinsames Singen schafft Einigkeit, denn schließlich hat man nicht nur einen gemeinsamen Text, sondern auch eine gemeinsame Tonhöhe – und welche Wucht Lieder entfalten können, haben Letten, Esten und Litauer in dieser Zeit der Welt eindrücklich vorgeführt.

Dreißig Jahre Estnisches Wirtschaftswunder
Ein lettisches Sommermärchen
Baltisch – was genau ist damit gemeint?
Lettland nach der Stunde Null

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!