Seit über dreißig Jahren ist Lettland wieder ein unabhängiger Staat. Vieles hat sich seither verändert – und das macht den Blick zurück auf die Zeit kurz nach der Stunde Null umso spannender.
Meine erste Reise in das erst seit wenigen Monaten wieder unabhängige Lettland fällt in den Spätwinter. Zu meinen ersten Eindrücken gehören neben den verschneiten Straßen der spärliche Verkehr und die schummrige Beleuchtung: Es herrscht Energieknappheit. Auch die Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel sind stark ausgedünnt, Cafés schließen früh. Aber nachdem ich vorher in Deutschland diverse Horrorgeschichten gelesen habe, stelle ich fest, dass sich keine meiner Befürchtungen bewahrheitet. Weder treffe ich hier auf einen gescheiterten Staat, noch muss ich jemals hungern oder frieren.
Kein Zweifel: Das Land funktioniert
Mit dem lettischen Rubel verfügt Lettland über eine Übergangswährung, deren Wechselkurs sich nach anfänglichem Wertverlust inzwischen stabilisiert hat. Es gibt so gut wie keine Werbung (eine Wohltat!) und nur wenig westliche Importprodukte, aber das Warenangebot ist erstaunlich gut, und auch die in der Sowjetzeit allgegenwärtigen Schlangen sind aus den Läden verschwunden. Natürlich ist die Infrastruktur verschlissen, sind Busse, Straßenbahnen und Vorortzüge klapprig und langsam. Und doch fehlt der Eindruck des totalen Verfalls, ist Riga keine graue Stadt. Außerdem wird fleißig improvisiert. Im Sommer werden Gärten bewirtschaftet, Pilze und Beeren gesammelt, und es wird für den Winter eingelegt und eingekocht und Brennholz zum Heizen gestapelt. Die Züge mögen langsam fahren, aber es hängen Fahrpläne aus, die pünktlich eingehalten werden. Überall findet sich ein Café mit ein paar einfachen Gerichten oder ein freies Bett. Wer eine Ader für Nostalgie hat und nicht übermäßig anspruchsvoll ist, muss auf nichts Wesentliches verzichten.
Der neue Staat
Mit den Attributen und Emblemen der Sowjetunion hat Lettland gründlich aufgeräumt. Die Moskauer Zeit ist durch die Osteuropäische Zeit ersetzt worden, Lenindenkmäler sind verschwunden, Straßen umbenannt, russische Schilder durch lettische ersetzt. Vor allem aber sind die verhassten Verbote gefallen: Am Rigaer Freiheitsdenkmal muss man nicht mehr vorbeieilen, sondern darf stehen bleiben und sogar Blumen ablegen. Natürlich sind Versammlungen erlaubt, darf die lettische Fahne wehen, können Strände und Wälder ungehindert betreten werden. „Wir sind doch ein freies Land“, bekomme ich als erstaunte Antwort zu hören, wenn ich aus alter Gewohnheit vorsichtig frage, ob ich denn eine Brücke oder einen Zug fotografieren darf.
Lettland und seine Stunde Null
Anders als beispielsweise in Polen oder Ungarn ist in Lettland buchstäblich ein neuer Staat aus der Taufe gehoben worden. Es gibt eine neue Eisenbahngesellschaft, eine neue Post, eine eigene Verwaltung mit Ministerien und Behörden, deren Namen alle erst noch lernen müssen. Nach und nach werden neue Pässe und Autokennzeichen ausgegeben, wird der lettische Rubel im Kurs von 1:200 durch den Lats ersetzt. Kein Zweifel: Es ist alles ein einziges gigantisches Experiment. Wird es gelingen? Natürlich gibt es Skepsis, aber der Optimismus überwiegt, vor allem aber die Freude über die wiedergewonnene Freiheit.
In Erinnerung geblieben ist mir – natürlich neben der überwältigenden Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen und der wunderbaren Landschaft – diese ganz besondere Stimmung. Die Relikte der Sowjetunion sind unübersehbar, aber sie dominieren nicht das Bild, und der Albtraum der Besatzung ist vorbei. Mit der neuen Währung und dem langsam anlaufenden wirtschaftlichen Aufschwung wird ein Modernisierungsschub in Gang kommen, der bis heute andauert. Aber noch ist es, als halte Lettland kurz inne, bevor das Alte endgültig vorbei ist und das Neue beginnt. Es ist ein kurzes Zeitfenster, geprägt von viel Ursprünglichkeit und einer starken Bedürfnislosigkeit. Zu meinem Abschied haben sich alle meine Freunde zu einer Party versammelt, und ich habe einen dicken Kloß im Hals. Aber dann rufen alle durcheinander, dass ich unbedingt im Sommer wiederkommen muss, wenn alles viel schöner ist, und von allen Seiten kommen Vorschläge für Unternehmungen. „Du kommst doch im Sommer wieder?“, werde ich gefragt. Es gibt Fragen, auf die man nicht mit Nein antworten kann.
Siehe hierzu auch:
• Ein lettisches Sommermärchen
• Auf Spurensuche in Riga
• Dreißig Jahre estnisches Wirtschaftswunder
• Berlin-Tallinn per Zug: Wann geht das endlich wieder?
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Mehr vom und über den Autor erfahren Sie hier!