Zugfahrten von Deutschland ins Baltikum waren erst ein Abenteuer, dann gab es gar keine Verbindungen mehr für die gesamte Strecke bis Tallinn. Das Projekt „Rail Baltica“ soll nun Abhilfe schaffen. Aber wann ist es endlich so weit? Und warum dauert das alles so lange?

Von Dr. Berthold Forssman

Bei meinen ersten Reisen nach Lettland hatte ich noch das Privileg einer direkten Fährverbindung von Kiel nach Riga. Die Schiffe waren zwar absolut nicht vergleichbar mit den komfortablen Skandinavienfähren, doch es war eine Fahrt von Tür zu Tür über die offene Ostsee und ohne ständige Grenzkontrollen, und von Riga gab es dann Züge nach Estland oder nach Litauen. Aber per Bahn von Deutschland ins Baltikum? Da tat sich schon bald ein großes Problem auf: Die alte Hauptstrecke von Warschau nach Vilnius führte ein kurzes Stück durch Belarus, wo sich auch die Anlage für den Wechsel von der mitteleuropäischen Normalspur auf die in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten üblichen Breitspur befand. Das bedeutete zwei zusätzliche Grenzübertritte und ein weiteres Visum.

Forssman Übersetzer Bahngleise Lettland
Forssman Übersetzer Bahnhof Sestokai

Verbindungen mit viel Improvisation

In Litauen und Polen reagierte man, indem man eine nur wenige Kilometer lange normalspurige Strecke über die Grenze wiederaufbaute. Dort gab es keine Spurwechselanlage, aber auf dem Bahnhof im litauischen Šeštokai wartete auf dem gegenüberliegenden Gleis ein Anschlusszug für die Breitspurstrecke. Schnell war das Ganze trotzdem nie: Die Fahrt von Warschau bis Šeštokai dauerte rund 7 Stunden, davon allein 3 Stunden für die letzten 60 Kilometer. Von Šeštokai bis Tallinn war man gut und gerne noch einmal 12 Stunden unterwegs. Aber immerhin: Berlin-Tallinn war so in rund 26 Stunden zu schaffen, mit Umsteigen in Warschau und eben an der polnisch-litauischen Grenze.
Einmal wäre es fast schiefgegangen: Da blieb der Zug Berlin-Warschau gleich hinter der Grenze 80 Minuten ohne Angaben von Gründen auf dem Gleis stehen. In Warschau waren aber bloß 7 Minuten Zeit zum Umsteigen vorgesehen, und der reservierungspflichtige Balti Ekspress Warschau-Tallinn fuhr nur alle zwei Tage. Erst nachdem wütende Reisende das Dienstabteil belagerten, war der Zugbegleiter bereit, in Warschau anzurufen und die Lage zu schildern.
Natürlich wurde auch an jeder Grenze kontrolliert, insgesamt viermal also, davon dreimal mitten in der Nacht. Die Busverbindungen waren mit ihren veralteten Fahrzeugen auf schlecht ausgebauten Straßen und den endlosen Lkw-Staus an den Grenzen allerdings auch keine Alternative.

Busse und Billigflieger verdrängen die Eisenbahnverbindung

Aber es kamen moderne Reisebusse mit bequemen Sitzen und WC, die Straßen wurden ausgebaut, die Grenzübertritte einfacher, und dann kamen auch noch die Billigflieger. Das nach Westen ausgerichtete Polen hatte kein Interesse, die Bahnstrecke nach Litauen auszubauen, und in den baltischen Staaten arbeiteten die Eisenbahngesellschaften lieber gegen- als miteinander und setzten bevorzugt auf den Gütertransit in Ost-West-Richtung. Von Riga nach Tallinn beispielsweise gab es entweder gar keine Zugverbindung mehr oder nur mit Umsteigen an der Grenze ohne abgestimmten Fahrplan. In Sonntagsreden wurde regelmäßig die Notwendigkeit beschworen, endlich wieder eine Zugverbindung zu schaffen, aber dann blieb es doch beim täglichen Klein-Klein. Die zu Beginn der 2000er Jahre veröffentlichten Pläne zum Bau einer 728 km langen Neubaustrecke in europäischer Normalspur von der polnisch-litauischen Grenze bis Tallinn klangen da wie eine Utopie oder zumindest wie unendlich ferne Zukunftsmusik. Der EU-Beitritt aller beteiligten Länder brachte Schwung in das Projekt mit dem Namen „Rail Baltica“, und längst sind die Planungen und Bauarbeiten im vollen Gange. Bis ins litauische Kaunas reicht die normalspurige Strecke bereits, und die Projektgesellschaft nennt mittlerweile 2026 als Termin für die Fertigstellung der gesamten Trasse bis Tallinn. Das wäre allerdings 35 Jahre oder mehr als eine Generation nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten und nach Jahrzehnten ohne akzeptablen durchgehenden Bahnverkehr.

Forssman Übersetzer Bahnhof Tartu
Forssman Übersetzer Blick aus Zugfenster

Rail Baltica – warum dauert das bloß so lange?

Es ist immer schwierig, die Interessen von vier Staaten unter einen Hut zu bekommen, so auch bei diesen oft so ungleichen Partnern. Die Wahl einer ablehnend eingestellten Regierung in einem einzigen Land, ein Streit zwischen zwei Nachbarn über ein ganz anderes Thema – und schon geriet das Gesamtvorhaben ins Wanken. Die EU übernimmt zwar bis zu 85% der Kosten für Rail Baltica, aber eben nur, wenn das Projekt auch wirklich umgesetzt wird. Die kürzeste Strecke von Tallinn nach Riga führt entlang der Küste und damit durch eine dünnbesiedelte Gegend, sodass die zweitgrößte estnische Stadt Tartu ins Abseits gerät. Für Litauen bedeutet die Trassenführung über Kaunas, dass die Hauptstadt Vilnius abgeklemmt wird. Und schließlich entsteht zwar eine moderne Trasse in Nord-Süd-Richtung bis Mitteleuropa, aber sie ist mit dem übrigen Breitspurnetz eben nicht kompatibel. Auch das hat die Begeisterung der Teilnehmerländer immer wieder gedämpft. Die Fahrten in den neunziger Jahren waren ein spannendes Erlebnis, aber eben auch ein Abenteuer und kein bequemes Reisen. Und so freue ich mich als bekennender Eisenbahnfreund heute umso mehr, dass eine Direktverbindung nun doch in immer greifbarere Nähe rückt!

Siehe hierzu auch die folgenden Beiträge:
Wechselnde Grenzerfahrungen
Lettland nach der Stunde Null
Auf Spurensuche in Riga
Estlands Südosten – zauberhaft und weitgehend unbekannt
Ein lettisches Sommermärchen

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!