Mit rund 750 Zeichen enthält der schwedische Rökstein die längste bislang bekannte Runeninschrift in Stein. Sie ist gut erhalten und deshalb relativ leicht zu entziffern. Trotzdem ist bis heute nicht klar, was dort eigentlich steht. Woran liegt das?

Von Dr. Berthold Forssman

Gleich im ersten Semester meines Skandinavistikstudiums wurde ein Seminar zum Thema „Runen“ angeboten, das ich sofort voller Neugier belegte. Für den Schein musste man eine Hausarbeit schreiben, und mein Thema lautete „Der Rökstein“, was mir als Studienanfänger erst einmal überhaupt nichts sagte. Aber in was für ein Wespennest hatte ich da gestochen! Seit über hundert Jahren sorgt diese Inschrift für Streit unter Forschern, und je mehr ich zu dem Thema las, desto größer wurde meine Verwirrung.
Im Sommer darauf hatte ich dann die Gelegenheit, den Stein auf einer Reise durch Schweden in natura zu sehen. Er steht in Östergötland nahe der Kirche von Rök unter einem Schutzdach, und ich bat meine Mitreisenden um einen kleinen Abstecher. Meine Gefährten waren freundlich-interessiert, aber auch etwas ungeduldig – immerhin wollten wir an dem Tag noch bis Stockholm kommen. So wurden meine ausführlichen Schilderungen schon bald durch Zwischenrufe unterbrochen: „Jetzt sag doch endlich, was dort steht!“

Forssman Übersetzer Kirche mit Rökstein
Forssman Übersetzer Runenstein von Rök

Und was steht da nun?

Wenn das mal so einfach zu beantworten wäre! Die Inschrift besteht aus insgesamt 750 Runen und ist hervorragend erhalten, denn der fast vier Meter hohe Stein war lange in verschiedene Gebäude eingemauert und somit nicht der Witterung ausgesetzt. Allerdings weiß man deshalb auch nicht, wo er ursprünglich aufgestellt war. Vielleicht auf einem Hügel, um noch mehr Wirkung zu entfalten? Er muss ein eindrückliches Denkmal gewesen sein, und mit Sicherheit bedeutete es einen enormen Aufwand, ein solches Monument zu errichten. Das ist bestimmt nicht zufällig oder beiläufig passiert, sondern muss einen wichtigen Zweck verfolgt haben.
Die Runenschrift als solche ist vollständig entziffert, birgt also keine so großen Rätsel wie andere alte Schriftsysteme. Auch die Sprache lässt sich relativ gut rekonstruieren, denn das Altnordische ist durch umfangreiche altisländische Quellen belegt, und die Sprache dürfte in der Entstehungszeit, das heißt in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts n. Chr., im ganzen Norden noch recht einheitlich gewesen sein.

Was macht es trotzdem so schwierig?

Die Runenschrift bestand in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts n. Chr. aus nur noch 16 Zeichen, und manche Runen bezeichnen deshalb mehrere Laute. Außerdem gibt es keine Worttrenner, und eine Rune am Wortende kann gleichzeitig den ersten Laut des folgenden Wortes bezeichnen. Dadurch sind an mehreren Stellen unterschiedliche Lesungen möglich, und jede kleine Mehrdeutigkeit sorgt für neue Widersprüche. Ausgerechnet an ein paar entscheidenden Stellen ist die insgesamt gut erhaltene Inschrift beschädigt. Abgesehen davon: In welcher Reihenfolge liest man so eine Inschrift überhaupt? Bis heute ist an manchen Stellen umstritten, welcher Abschnitt auf welchen folgt – und auch das wirkt sich natürlich auf die Interpretation aus.

Forssman Übersetzer Rökstein unter Dach
Forssman Übersetzer Runenstein Rök

Die Gesamtdeutung bleibt schwierig

Immerhin sind einzelne Textabschnitte relativ klar zu verstehen. Einigkeit besteht im Wesentlichen darin, dass die Inschrift mit den folgenden Worten beginnt:
„Nach Vemod stehen diese Runen. Aber Varin, der Vater, ritzte sie nach dem todgeweihten Sohn.“
Etwas später folgt ein Gedicht. Die Übersetzung lautet in etwa:
„Es herrschte Theoderich der Kühne, der Fürst der Seekrieger, über den Strand des Hreidmeers. Jetzt sitzt er gerüstet auf seinem gotischen Ross, den Schild auf der Schulter, der Held der Märinger.“
Ist hier wirklich der legendäre König der Ostgoten alias Dietrich von Bern gemeint? Wo liegt das Hreidmeer, und wer sind die Märinger? Fragen über Fragen!
Die Inschrift wirkt darüber hinaus wie eine Ansammlung loser Sätze oder Anspielungen auf Sagen oder Ereignisse, die sich nur schwer in einen Gesamtzusammenhang bringen lassen. Die Rede ist unter anderem von zwei mehrmals geraubten Kampfbeuten, einem Schlachtfeld, auf dem zwanzig Könige liegen, einem Mann, der in hohem Alter einen Sohn zeugte, einem Helden, der einen Riesen erschlug, und dem Opfer, das eine Ehefrau gebracht und dadurch eine Rache ermöglicht hat.
Immer wieder tauchen neue Deutungsversuche auf, von denen bislang aber keiner auf allgemeine Zustimmung gestoßen ist. Vermutet wird unter anderem die Beschreibung eines Ritus. Wenn Varin diesen Stein errichtet hat, muss er ein wohlhabender und einflussreicher Mann gewesen sein. Hat er seinen Sohn Vemod durch Gewalt verloren und will sich jetzt rächen? Oder ist der mächtige Varin zugleich Hüter eines Heiligtums und fürchtet, dass die kultischen Handlungen nach dem Tod seines Sohns und Nachfolgers und im Zuge der sich allmählich abzeichnenden Christianisierung Nordeuropas in Vergessenheit geraten? Oder wird ein Unheil beschrieben, das die Region befallen hat und durch eine Beschwörung abgewendet werden soll?
Selbst kann ich leider auch keine Erklärung präsentieren, und darum verfolge ich die Entwicklung nach wie vor mit Interesse, aber auch mit einer gewissen Portion Skepsis. Wenn also wieder einmal eine Schlagzeile verkündet, dass das Rätsel um den Rökstein endlich gelöst ist, ist erst einmal Vorsicht angebracht. Aber der Stein ist und bleibt eine spannende Angelegenheit – und ist ein gerne bei mir angefragtes Vortragsthema.

Siehe hierzu auch:
Schweden und sein steinernes Erbe
Eine Lanze für die germanische Altertumskunde!
Die Isländersagas: Islands Beitrag zur Weltliteratur
Germanische Namen – wirklich nur altmodisch und rätselhaft?
Nordische Runen – immer wieder faszinierend

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!