In vielen Sprachen tragen die Deutschen die Bezeichnung „Germanen“, und Deutsch ist eine germanische Sprache. Trotzdem sind unsere Vorfahren für manche ein Buch mit sieben Siegeln oder sogar ein Tabuthema – warum eigentlich?

Von Dr. Berthold Forssman

Es ist schon seltsam: In vielen Sprachen der Welt heißen die Deutschen „Germanen“, und an der Universität wird das Fach „Germanistik“ im Sinne von deutscher Sprach- und Literaturwissenschaft gelehrt. Aber welche Absolventin eines solchen Studiengangs und welcher Deutschlehrer könnte so genau sagen, woher die Begriffe „deutsch“ und „germanisch“ eigentlich stammen, was die germanischen Sprachen von anderen unterscheidet und wer diese Germanen überhaupt waren? Eine Erklärung für diese offenkundige Lücke ist auch immer schnell zur Hand: die Überhöhung der Germanen in der Nazi-Zeit. Aber kann das der einzige Grund dafür sein, dass die germanische Altertumskunde auch heute noch durch Abwesenheit glänzt?

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Alles in den Giftschrank?

Gewiss: Mit Schaudern erinnere ich mich daran, wie ich als studentische Hilfskraft am Nordischen Institut beim jährlichen Abstauben der Bibliothek in der hintersten Ecke mit spitzen Fingern Bücher mit haarsträubenden Titeln und Hakenkreuzstempel aus dem Regal zog. Aber welche Breitenwirkung erzielten solche Bücher wirklich? Deutlich prägender dürften die Darstellungen ab dem 19. Jahrhundert gewesen sein, die Germanen mit hörnerbesetzten Helmen und ihre Frauen als stämmige Walküren mit Brünne zeigten. Auch hat die 68-er Bewegung mit ihrer Forderung nach einer Neuausrichtung aller Lehrinhalte vielen historischen Wissenschaften einen Bärendienst erwiesen.

In Skandinavien kennt man dagegen keine Berührungsängste mit seinen Vorfahren. In Island pflegt man seine altertümliche Sprache und ist stolz auf seine alte Literatur. In Schweden stehen Runensteine in manchen Landesteilen fast an jeder Straßenecke, in Oslo gehört das Wikingerschiffhaus zu den zentralen Attraktionen. Gleiches gilt für die Moorleichenfunde oder für die Goldhörner von Gallehus in dänischen Museen. Aber warum finden so viele von uns alles spannend, was aus dem vermeintlich so geheimnisvollen Island kommt, winken aber ab, sobald in diesem Zusammenhang das Wort „germanisch“ fällt? Warum gelten die Kelten geradezu als Sinnbild von Kultur und Weisheit, während die Germanen ignoriert oder gar ins Lächerliche gezogen werden? Immerhin: Ich freue mich, dass meine Vorträge und Seminare über germanische Altertumskunde auf positive Resonanz stoßen. Wer waren die Nibelungen denn wirklich? Wie geheimnisvoll sind Runen? Was wissen wir über die alte Mythologie – und woher? Wodurch unterscheiden sich die germanischen Sprachen voneinander, und woher kommen unsere Wörter und Ortsnamen? Diese und andere Fragen stoßen durchaus auf Interesse.

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Forschung tut Not

Die Germanen selbst können nichts für verzerrende Darstellungen oder pseudowissenschaftliche Ansätze im 19. und 20. Jahrhundert, und sie taugen weder als Heroen noch als Witzfiguren. Werden ganze Epochen, Völker und Kulturen einfach ausgeblendet, können sie erst recht als Projektionsfläche missbraucht werden. Auch steht die Wissenschaft nie still: Ständig werden neue Erkenntnisse gewonnen, die auch in anderen Disziplinen das Bild präzisieren. Das gilt auch für die germanische Altertumskunde. Und ob es uns nun gefällt oder nicht: Die Germanen gehören zu unseren Vorfahren, und ihre Sprache lebt im Deutschen bis heute fort – ebenso wie im Englischen, Niederländischen, Friesischen, Schwedischen, Norwegischen, Dänischen und Isländischen.

Siehe hierzu auch:
Schweden und sein steinernes Erbe
Der Runenstein von Rök – für immer ein Rätsel?
Germanische Namen – wirklich nur altmodisch und rätselhaft?
Die Isländersagas: Islands Beitrag zur Weltliteratur

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!