Bei Island denken viele vor allem an die atemberaubende Landschaft mit ihren Lavafeldern, Gletschern und Vulkanen und vielleicht auch an Pferde, an Fischerei oder an die Sängerin Björk. Aber aus Island kommt auch eine einmalige Literaturgattung: die Sagas.

Von Dr. Berthold Forssman

Zu einem Studium der Skandinavistik (Nordische Philologie) gehört auch das Altnordische, die Sprache der Vorfahren der heutigen Dänen, Schweden, Norweger und Isländer. Zu Beginn der Wikingerzeit (ca. 800-1150 n. Chr.) dürfte diese Sprachstufe noch recht einheitlich gewesen sein, bevor sie sich allmählich aufgliederte und auf dem Kontinent die heutigen Einzelsprachen entstanden. Auf der abgelegenen Insel Island ist sie dagegen – zumindest im Schriftbild – weitgehend unverändert geblieben: Heutige Isländer können ihre alten Texte also ohne größere Vorbildung lesen und verstehen.

Forssman Übersetzer Isländersagas Originaltexte
Forssman Übersetzer Isländersagas Übersetzung

Die Isländersagas: weder Sage noch Endlos-Saga

Für uns Studenten im 1. Semester sah das natürlich ganz anders aus. Mühsam lernten wir die vertrackte Grammatik und ackerten uns Zeile für Zeile durch die alten Texte wie einst im Lateinunterricht. Dabei schafften wir es anfangs kaum, auch noch auf den Inhalt zu achten. Aber dann folgten Lehrveranstaltungen, die eigens der Lektüre dieser Texte gewidmet waren. In Island entstand im Mittelalter nämlich eine einmalige und bis heute in vielerlei Hinsicht erstaunlich modern anmutende Literaturgattung: die Sagas. Wir verwenden dieses Wort heute manchmal im abfälligen Sinne, wenn es um ein nicht enden wollendes Alltagsdrama geht. Das ist aber natürlich nicht gemeint, und trotz der Ähnlichkeit der Wörter handelt es sich bei den Sagas auch nicht um „Sagen“ in unserem Sinne. Vielmehr sind die Isländersagas kunstvoll aufgebaute Erzählungen über das Leben der ersten Siedler, die ab 874 n. Chr. nach Island kamen. Es gibt hervorragende Übersetzungen, aber auch sie sind oft schwere Kost, denn kaum eine Saga kommt ohne eine verwirrende Vielzahl von Namen aus, und die Geschichten sind zwar kunstvoll, aber auch überaus kompliziert aufgebaut.

Studium an der Quelle

Bei meinem Studium in Reykjavík belegte ich auch einen Kurs in Saga-Literatur. Da wurde natürlich ein ganz anderes Tempo vorgelegt! Wurde an einer deutschen Universität in einem ganzen Semester allenfalls eine einzige Saga auszugsweise behandelt, kam in Island fast jede Woche eine neue Saga an die Reihe. Übersetzt wurde gar nicht – die isländischen Studierenden lasen ja quasi ihre eigene Muttersprache. Dafür gab es gleich zu Beginn des Semesters eine endlose Liste mit Fachliteratur, die man zu lesen hatte, außerdem musste ich eine Hausarbeit schreiben und am Ende des Semesters eine mündliche Prüfung auf Isländisch ablegen. Als ich die Sagas aber richtig frei lesen konnte und mir geeignete Lektüretechniken angeeignet hatte, sah ich auch den Inhalt auf einmal in einem ganz anderen Licht. Die Begeisterung hält bis heute an – und ein paar Vorträge zu diesem Thema sind dadurch auch entstanden!

Forssman Übersetzer Blick auf Skogafoss
Forssman Übersetzer Nahe Skogafoss in Südisland

Isländisch: wie gesprochenes Latein?

Diese Auseinandersetzung mit dem Alt- und Neuisländischen war für mich ein spannendes Erlebnis. Man stelle sich vor, in der Spätantike wären Römer auf eine Mittelmeerinsel ausgewandert und würden dort heute noch Latein sprechen, während auf dem Kontinent Sprachen wie Spanisch, Italienisch und Französisch entstanden sind! Dann könnten Latein-Interessierte auf diese Insel fahren und sich hinterher nicht nur ein Bier auf Latein bestellen und sich auf Latein unterhalten, sondern auch Caesar und Cicero flüssig lesen. Auch so kann man sich vielleicht das Isländische und seine Rolle für die nordische und für die germanische Sprach- und Literaturwissenschaft vorstellen.

Siehe hierzu auch:
Isländisch – Altnordisch als Amtssprache
Eine Lanze für die germanische Altertumskunde!
Isländisch und seine tierischen Redensarten
Germanische Namen – wirklich nur altmodisch und rätselhaft?
Island und seine puristische Sprachpolitik: inspirierend und witzig zugleich
Der Vulkanausbruch von Heimaey: Die abgewendete Katastrophe
Isländisch und seine tierischen Redensarten

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!