Zur direkten Anrede können wir im Deutschen sowohl das direkte, vertraulichere „du“ als auch das förmlichere „Sie“ verwenden. In Schweden und Island ist das Siezen dagegen unüblich. Wie lebt es sich, wenn man mit allen „per Du“ ist?

Von Dr. Berthold Forssman

Eigentlich könnte alles sehr einfach sein: Die germanischen Sprachen kannten ein Pronomen *þū „du“, mit dem man sich direkt an eine Person wandte. Erst im Mittelalter setzten sich aus Höflichkeitsgründen andere Anredeformen gegenüber Respektpersonen durch, aber davor war man buchstäblich mit jedem Gegenüber „per Du“. Auch Nachnamen kamen im deutschen Sprachraum erst im Mittelalter auf. Das Isländische hat den alten Sprachzustand dagegen im Wesentlichen bewahrt: Grundsätzlich spricht man dort bis heute eine Person mit Vornamen und „du“ an, nicht als Zeichen fehlender Höflichkeit, sondern weil dies ganz einfach die übliche Anredeform ist, wie sie seit Jahrhunderten besteht.

Forssman Übersetzer Königliches Schloss Stockholm
Forssman Übersetzer Stadtmauer Visby

Schwedens Sonderweg

Auch das Schwedische führte nach und nach Höflichkeitsformen ein, folgte also in mancher Hinsicht einem ähnlichen Weg wie das Deutsche. Für uns dagegen etwas ungewöhnlich: Bis ins 20. Jahrhundert wurde oft die 3. Person Singular verwendet, eine direkte Anrede also vermieden. „Kann Frau Andersson mir helfen?“, hieß es dann. Für Kinder bedeutete dies, dass sie ihre Lehrerin „fröken“ (Fräulein) und nicht näherstehende Erwachsene mit „farbror“ (Onkel) oder „tant“ (Tante) anzureden hatten. „Kann der Onkel mir sagen, wie spät es ist?“, lautete dann beispielsweise die Frage nach der Uhrzeit. Kinderbuchklassiker wie die Bücher von Astrid Lindgren kennen solche Formen noch. Unter Erwachsenen gab es außerdem die Anrede mit der 2. Person Plural „ni“ (Ihr). So spricht beispielsweise Martin Beck viele Leute an, der Kommissar aus den Kriminalromanen von Maj Sjöwall und Per Wahlöö.

Schwedens Gesellschaft wurden im 20. Jahrhundert stark durch die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbewegung geprägt. Da passten die als steif empfundenen Anredeformen immer weniger ins Bild. Ab Ende der 1960er Jahre lautete das Schlagwort deshalb „weg mit den Titeln!“. Selbst erinnere ich mich noch daran, wie ungewohnt es anfangs war, Erwachsene auf Schwedisch einfach zu duzen. Ein Schulfreund von mir hatte eine schwedische Mutter, und sprach ich Deutsch mit ihr, sagte ich „Frau Steinmann“ und „Sie“. Wechselten wir dagegen ins Schwedische über, hieß es wie selbstverständlich „Marianne“ und „du“. Scherzhaft wurde ich in Schweden sogar manchmal ermahnt, doch nicht so förmlich zu sein. „In Schweden sagen wir nur du“, hieß es dann. Besonders eigenartig fand ich auch, von der Werbung geduzt zu werden. In Deutschland kennen wir das zwar in Ansätzen, vor allem durch den (schwedischen) Ikea-Konzern, aber die Regel ist bei uns nach wie vor ein „kommen Sie und kaufen Sie!“. Später im Studium fand ich es in Schweden und Island zunächst ungewohnt, dass wir auch die Professoren einfach duzten – das war in Deutschland, von einigen 68-ern abgesehen, damals eher die Ausnahme.

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Und wird es dadurch netter?

Über das Duzen und Siezen ist bei uns unendlich viel gesagt und geschrieben worden, und nie würde ich es wagen, dieses Thema erschöpfend behandeln zu wollen. Allerdings herrscht sicher relativ breite Einigkeit darüber, dass Siezen nicht zwangsläufig Unfreundlichkeit bedeutet, während man nicht alle Personen mag, nur weil man sie duzt. Auch in Schweden und Island bedeutet die allgemeine Verwendung des „du“ also nicht, dass alle gut Freund miteinander sind oder dass es keine Hierarchien gäbe. Stattdessen gibt es durchaus Abstufungen in der Anrede, die Höflichkeit, Vertraulichkeit oder auch Distanz signalisieren können, die für uns oft schwerer zu erkennen und zu deuten sind als ein klares „du“ oder „Sie“. Und als Übersetzer muss ich genau diese Signale erkennen und mir ständig von Neuem überlegen, wie ich damit umgehe – denn in einem Krimi würden wir uns vermutlich wundern, wenn Polizeipräsidentinnen, Richter und Staatsanwältinnen auf einmal mit allen „per Du“ wären.

Siehe hierzu auch:
Warum mich Fernsehkrimis immer wieder nerven
Schwedisch: wirklich alles wie im Deutschen?
Island und seine puristische Sprachpolitik: inspirierend und witzig zugleich
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Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer u.a. für Estnisch, Litauisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!