Aus einem oder mehreren Wörtern ein neues entstehen lassen: Wortbildung ist in der Tat ein spannendes Thema. Besonders faszinierend finde ich dabei die insgesamt eher weniger bekannten Zusammenrückungen!
Wer sich innerhalb der Sprachwissenschaft mit dem Thema Wortbildung befasst, lernt wunderbare Begriffe kennen! Unter Präfigierung und Suffigierung kann man sich wegen „Präfix“ und „Suffix“ vielleicht notfalls etwas vorstellen. Aber was um alles in der Welt sind Determinativkomposita, präpositionale Rektionskomposita, Possessivkomposita oder Kopulativkomposita? Und noch weniger bekannt sind vermutlich die Zusammenrückungen – und um genau die geht es in diesem Beitrag.
Zusammenrückungen: spontan, archaisch und anarchisch
Anders als viele andere Wortbildungstypen folgen Zusammenrückungen keinen bestimmten Regeln. Vielmehr entsteht ein neues Wort, indem eine ganze Wortgruppe zu einem einzigen neuen Wort verschmilzt. Möglich ist beispielsweise die Verbindung eines Substantivs mit einem weiteren Wort, zum Beispiel „Vaterunser“ oder „Muttergottes“. Zusammenrückungen sind auch „Gernegroß“, „Taugenichts“ oder die noch längeren Substantive „Tunichtgut“, „Rührmichnichtan“, „Sauregurkenzeit“ oder „Dummejungenstreich“. Aber auch Wörter anderer Klassen sind Zusammenrückungen, zum Beispiel „trotzdem“, „jederzeit“, „zeitlebens“ oder „nichtsdestoweniger“. Die Grenzen lassen sich nicht immer klar ziehen: In manchen Fällen hat die jüngste Rechtschreibung bei der Neufassung der Regeln für die Getrennt- und Zusammenschreibung aus einem Wort wieder zwei gemacht. Zusammenrückungen gibt es übrigens auch in vielen anderen Sprachen, zum Beispiel schwedisch „iaktta“ (beobachten), „i skymundan“ (im Verborgenen), „tillbaka“ (zurück), „förvisso“ (gewiss) oder lettisch „vecaistēvs“ (Großvater).
Manche Zusammenrückungen haben außerdem Besonderheiten aufzuweisen, die sie für Sprachwissenschaftler überaus spannend machen. Äußerst ungewöhnlich ist die sogenannte Binnenflexion, d.h. anders als sonst üblich kann es im Wortinneren zu einer Veränderung kommen, vgl. „der Hohepriester“ (Singular) und „die Hohenpriester“ (Plural). In „Vergissmeinnicht“ sehen wir noch den alten Genitiv „mein“ statt des Akkusativs „mich“, und in „vorhanden“ steckt noch der alte Dativ Plural „Handen“ statt „Händen“, wie er sich auch in der Wendung „zu Handen“ erhalten hat.
An der Wiege der Wörter
Bei Komposita wie „Tischbein“ bilden zwei eigenständige Wörter ein neues Wort. Solche Bildungen sind für uns leicht durchschaubar, und wir alle können sie jederzeit selbst neu bilden. Anders sieht es schon bei den Bildungen auf -heit wie „Schönheit“, „Klugheit“ oder „Dummheit“ aus – natürlich kennen wir sie alle, aber wer weiß dafür, dass „Heit“ einst ein eigenständiges Wort mit der Bedeutung „Art und Weise“, „Erscheinung“ war? Besonders faszinierend finde ich genau diesen Zeitpunkt, an dem ein Wort seine Eigenständigkeit aufgibt und entweder nicht mehr allein vorkommen kann wie „Heit“ oder aber an dem die ursprüngliche Bedeutung immer mehr verblasst. In „vorhanden“ können wir zwar – mit etwas Fantasie und Vorwissen – noch „vor (den) Händen“ erkennen, aber welchen Sinn ergibt dann ein Satz wie „hinter mir sind noch genug Parkplätze vorhanden“? Und wie ist es mit dem Stand in „der Kranke ist imstande zu sitzen“ bestellt? Hier stehen wir an der Wiege der Wörter – und können uns vorstellen, dass vielleicht viele andere Wörter und Formen ursprünglich auf genau diese Weise entstanden sind.
Siehe hierzu auch:
• Lange Wörter: vielfältig, spannend und anstrengend
• Wortarten – im Reich der Grauzonen
• Wie alt sind Europas Sprachen?
• Falsche Freunde – von lustig bis tückisch
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist Prüfer, staatlich geprüfter und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Litauisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!