Manche Sprachen stehen in dem Ruf, besonders lange Wörter zu haben. Aber stimmt das überhaupt? Und wie kommt es zu solchen langen Wörtern?
Wenn ich erzähle, dass ich Finnisch gelernt habe, kommt als Antwort oft nicht nur „das soll ja so wahnsinnig schwierig sein“, sondern auch: „Haben die nicht so endlos lange Wörter?“. Seltsam, beides empfand ich gar nicht so. So schreibt das Finnische zum einen lange Vokale und Konsonanten konsequent doppelt, was automatisch für einen gewissen Dehnungsfaktor sorgt und bei den Vokalen y, ö und ä vielleicht ein bisschen seltsam aussehen mag. Zum anderen erkannte ich die einzelnen Bestandteile der vermeintlich langen Wörter. Das berühmte „hyppytyyny“ ist also bei Weitem nicht so kompliziert (oder lang), wie es vielleicht aussieht, sondern bedeutet lediglich Hüpfkissen. Auch „urheilukilpailu“ mag lang aussehen, besteht aber nur aus „urheilu“ (Sport) und „kilpailu“ (Wettkampf) – wobei deutsch „Sportwettkampf“ nur einen Buchstaben weniger hat. Schwedisch ist in Finnland zweite Amtssprache und steht auf Schildern oft unter dem Finnischen. Der Helsinkier Stadtteil Kaivopuisto heißt auf Schwedisch Brunnsparken, bedeutet aber genau dasselbe, nämlich „Brunnenpark“ – und ist in Wahrheit länger (was übrigens auch für Helsingfors gilt, die schwedische Form von Helsinki).
Die aufregende Welt der Komposita
Vielmehr stoße ich im Alltag regelmäßig auf überraschend lange deutsche Wörter, die mich gelegentlich zum Schmunzeln bringen. Den Witz mit dem „Donaudampfschifffahrtskapitän“ kennen natürlich viele, aber wenn man darauf achtet, sieht man immer wieder Wörter wie „Waldbrandbekämpfungsausrüstung“, „Mietschuldenfreiheitsbescheinigung“ oder „Statusfeststellungsverfahren“ (und mit Sicherheit gibt es noch viel mehr von dieser Sorte). Der Grund ist nämlich, dass das Deutsche, wie das Finnische und einige andere Sprachen auch, sogenannte Komposita bilden kann, also Wortzusammensetzungen. Davon gibt es mehrere Arten, und besonders häufig sind die sogenannten Determinativkomposita, wo das Erst- das Zweitglied näher beschreibt. So ist das „Tischbein“ das „Bein eines Tischs“ (und nicht etwa ein Hosenbein oder Stuhlbein). Bei Possessivkomposita wie „Dickkopf“, „Schlitzohr“ oder „Rotkäppchen“ geht es darum, was jemand hat, nicht aber, was jemand ist.
Besonders aus dem Studium in Erinnerung geblieben ist mir in dieser Hinsicht das Sanskrit, das klassische Altindische. Seine Wortbildungstypen hatten wunderbare Namen wie तत्पुरुष (Tatpuruṣa) für Determinativkomposita, z.B. राजपुत्र (rājaputra = Königssohn) oder कामसूत्र (kāmasūtra, in etwa = Sinnlichkeitslehre). Possessivkomposita heißen बहुव्रीहि (Bahuvrīhi) und sind im Altindischen ungleich häufiger. Wir kennen zwar das Adjektiv „schmalhüftig“, aber kein Substantiv wie „Die-eine-schmale-Hüfte-Habende“ als Bezeichnung für eine Frau. Je nach dem, wie viele (und wie lange) Wörter in einer Sprache aneinandergereiht werden können, gibt es dann eben auch entsprechende Wortungetüme.
Und die Alternative?
Nicht alle Sprachen können so flexibel Komposita bilden. Das Lettische und Litauische nutzen stattdessen meist vorangestellte Genitive nach der Art von „des Hauses Herr“ (Hausherr). Statt langer Wörter kann es dann allerdings zu mindestens ebenso mühsamen langen Ketten kommen, z.B. lettisch „mazās krāsniņas garā skārda dūmu caurule“ (wörtlich: des kleinen Ofens langes des Blechs des Rauchs Rohr, also der lange blecherne Rauchabzug des kleinen Ofens). Und ist „muļķiga mirkļa iedoma“ der Einfall eines albernen Augenblicks oder der alberne Einfall eines Augenblicks? Und was die Komposita betrifft: Natürlich können Wörterbücher (ob nun analog oder digital) niemals alle denkbaren Kombinationen aufnehmen. Das erklärt unter anderem auch, warum sich die Zahl von Wörtern in einer Sprache so schwer angeben lässt. Abgesehen davon: Nicht immer ist auf Anhieb klar, was gemeint ist. Ist die „Katzenliebe“ die Liebe, die uns eine Katze entgegenbringt, oder unsere Liebe zu einer Katze? Hier gibt es unendlich viel zu lernen – und sicher auch noch zu erforschen.
Siehe hierzu auch:
• Wie schwierig ist Estnisch?
• An der Wiege der Wörter: Zusammenrückungen
• Ein Plädoyer für lateinische Grammatikbegriffe!
• Sprachenlernen ohne Grammatik, ohne Mühe und in 30 Tagen?
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer und Prüfer und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!