Riga ist heute kein wirklich exotisches Reiseziel mehr. Aber wenn sich Freunde von mir nach Lettland aufmachen, fragen sie mich vorher oft: Was lohnt sich dort denn ganz besonders? Und viele sind überrascht, wenn ich dann sage: auf jeden Fall auch die Jugendstilbauten!
Als ich zum ersten Mal Anfang der Neunzigerjahre nach Riga fuhr, zeigten mir meine lettischen Freunde stolz ihre Stadt. Es gab damals noch so gut wie keine Reiseliteratur, und ich hatte kaum praktische Tipps von zu Hause mitbekommen. Umso überraschter war ich über die Vielzahl von Jugendstilbauten außerhalb der Altstadt, von deren Existenz ich nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Von den Fassaden blätterte oft der Putz, und außen wie innen fehlte es an Farbe, aber die Pracht war nach wie vor beeindruckend.
Jugendstil in Riga – etwas ganz Besonderes!
In Riga sind rund 800 Jugendstilgebäude erhalten, und 1997 erfolgte deshalb die Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe. Mit seinen vielen Jugendstilbauten steht die lettische Hauptstadt in einer Reihe mit anderen europäischen Metropolen wie Wien oder Paris. Diese Tatsache ist aber bei uns nicht so bekannt, weil Riga in der Sowjetzeit an Bekanntheit einbüßte und erst seit der Unabhängigkeit Lettlands wieder verstärkt in das allgemeine Bewusstsein zurückkehrt.
Dabei war Riga immer eine reiche Stadt. Dazu trug die günstige Lage an der Mündung der Daugava in die Ostsee bei. Ende des 12. Jahrhunderts kamen Eroberer aus Deutschland, im 13. Jahrhundert wurde Riga Mitglied der Hanse, und auch in den folgenden Jahrhunderten unter wechselnden Herrschaften orientierten sich die Bauherren immer eher an den europäischen Stilrichtungen. Deutsche Besucher fühlen sich deshalb heute in dieser Stadt zwischen romanischen, gotischen, Renaissance- und Barockbauten überhaupt nicht fremd.
Riga hat wahrlich eine Menge zu bieten, aber der Jugendstil nimmt doch einen ganz besonderen Stellenwert ein. Seine Blütezeit fiel auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Anschauungen freizügiger wurden und das Interesse an der Kultur exotischer Länder zunahm. Riga gehörte damals zum russischen Zarenreich, das immer noch recht rückständig war, sich dieser Entwicklung aber nicht vollständig verschließen konnte.
Riga war neben der Hauptstadt St. Petersburg Russlands Tor zur Welt, mit einem wichtigen Hafen, einer aufstrebenden Industrie und einem immer reicher werdenden Bürgertum. Die Bevölkerung wuchs rasant an, was zu einer enormen Bautätigkeit führte. Das Zarenreich schwächelte, und die weltoffenen Rigaer wünschten sich statt des vorherrschenden Neoklassizismus nach St. Petersburger Vorbild Gebäude in dem Stil, der damals in Europa modern war: dem Jugendstil. Besonders bekannt wurde der Architekt Michail Eisenstein (1867-1920), der in Riga mehr als 50 Gebäude entwarf.
Zwischenzeitlicher Verfall und Wiederaufstieg
Im unabhängigen Lettland der Zwischenkriegszeit kamen andere Stilrichtungen auf, und der Jugendstil wurde als überladen und unmodern empfunden. In der Sowjetzeit wurden die oft riesigen Wohnungen in kleine Einheiten unterteilt und die Bausubstanz vernachlässigt.
Diese Bilderserie zeigt auf anschauliche Weise das Leben in solchen Gemeinschaftswohnungen im Riga der Sowjetzeit.
Heute sind viele dieser Gebäude liebevoll saniert, und die Jugendstilviertel sind wieder stark gefragte Wohngegenden. Besonders bekannt ist die Alberta iela, aber auch in vielen anderen Straßen im Gürtel rings um die historische Altstadt gibt es an den Fassaden wie auch in den Treppenhäusern unzählige Entdeckungen zu machen.
Für mich gehört der Jugendstil in Riga einfach dazu, und darum habe ich mich besonders gefreut, als ich den Auftrag zur Übersetzung des Reiseführers „Riga – der Jugendstil“ von Andris Brūderis bekam. Er liegt bis heute in vielen Buchhandlungen aus, und bei jedem Besuch in Riga besorge ich mir ein paar Exemplare als Mitbringsel.
Siehe hierzu auch:
• Rigas Freilichtmuseum: auf den Spuren von Straumēni
• Die Markthallen in Riga: Immer einen Besuch wert
• Lettland nach der Stunde Null
• Jūrmala: Höhen und Tiefen eines Ostseebades
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Mehr vom und über den Autor erfahren Sie hier!