Wer sich wie ich beruflich mit kleinen Sprachen und weniger bekannten Ländern wie Estland, Lettland und Litauen befasst, stößt oft auf Interesse – aber manchmal auch auf recht erstaunliche Wissens- oder gar Bildungslücken.

Von Dr. Berthold Forssman

Ich gebe zu, dass es Fragen gibt, die ich nicht mag. Es ist sicherlich sehr schmeichelhaft, dass ich als Baltikum-Experte wahrgenommen werde, aber ich schätze es weniger, wenn mehr oder weniger Unbekannte ohne vorherige Absprache zur besten Arbeitszeit bei mir anrufen, weil sie eine Reise dorthin planen und wie selbstverständlich beraten werden wollen, als sei ich ein kostenloses Reisebüro. Fast zwangsläufig werde ich dann außerdem gefragt: „Und kommt man dort mit Englisch zurecht?“ Dann antworte ich wahrheitsgetreu: „Keine Ahnung, ich habe es noch nie ausprobiert.“

Forssman Übersetzer Lettland Riga Blick von Petrikirche
Forssman Übersetzer Lettland Strand Jurmala

Warum nicht einfach nachschlagen?

Nun ist es ja ganz selbstverständlich, dass wir nicht alles wissen können, und es ehrt den Menschen, wenn er sich informiert und weiterbildet. Auch freue ich mich, wenn sich jemand für Estland, Lettland oder Litauen interessiert. Manchmal bin ich dann aber doch erstaunt, wie oft die Region Baltikum das Etikett „exotisch“ verpasst bekommt. Über andere Ostseeanrainer wie Schweden würde das wohl kaum jemand sagen. Auch frage ich mich dann, was die „Exotik“ von kulturell und klimatisch ähnlichen Ländern an der Ostsee ausmacht, die von Berlin per Flugzeug schneller zu erreichen sind als Lissabon. Vielen scheint gar nicht bewusst zu sein, dass Estland, Lettland und Litauen nicht nur EU- und NATO-Mitglieder, sondern auch Teil des Schengenraums und der Eurozone sind. Ist es denn wirklich nur unnötiges „Spezialwissen“, mit welchen europäischen Staaten wir auf das engste verbunden sind? Als Rechtfertigung kommt oft etwas wie „das ist alles noch so neu für mich“. Aber wie viele Jahre müssen nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit dieser Länder 1991 oder dem EU- und NATO-Beitritt 2004 dann noch verstreichen? Es müsste möglich sein, wenigstens einmal eine Landkarte zu betrachten oder ein bisschen in Wikipedia zu stöbern.

Noch immer Mauer in den Köpfen?

Es scheint, als höre das Bewusstsein vieler Menschen schlagartig auf, wenn es in Richtung Osten geht – von Reisezielen wie Prag oder Budapest vielleicht einmal abgesehen. Hartnäckig hält sich auch der Ausdruck „Ostblock-Länder“, obwohl das ursprünglich ein negativ besetztes Schlagwort war und auch deshalb nicht passt, weil die ehemals kommunistischen Länder Europas keineswegs einen homogenen Block von Estland bis Bulgarien bilden. Das gilt natürlich auch für die kulturelle und sprachliche Landschaft: „Ex-kommunistisch“ sagt wenig über diese Länder heute und kann vor allem auch nicht einfach mit „russisch“ gleichgesetzt werden.

Forssman Übersetzer Blick auf St. Anna in Vilnius
Forssman Übersetzer Blick von Viru auf Altstadt

Es winkt das Fettnäpfchen

Im Volksmund wurde die Sowjetunion während des Kalten Krieges oft Russland genannt, was bis heute nachwirkt. So stößt es auf blankes Erstaunen, dass Estland, Lettland und Litauen eigene Sprachen haben, die sich nicht nur voneinander, sondern vor allem auch vom Russischen unterscheiden, und dass man dort nicht mit kyrillischer Schrift schreibt und das auch nie getan hat. Nachdem aus politischer Korrektheit jahrelang der Zusatz „Ex-“ oder „ehemalig“ verwendet wurde, wenn es um die Sowjetunion ging, erlebe ich absonderliche Formulierungen wie „ach Lettland, ist das nicht Ex-Russland?“ Vielmehr sind die Begriffe sowjetisch und russisch klar zu trennen und der Begriff Ostblock zu vermeiden – und es ist wirklich weder nötig noch hilfreich, Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion souveräne Staaten und enge Partner Deutschlands als „ehemalige Sowjetrepubliken“ zu bezeichnen.

Siehe hierzu auch:

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!