Ein Großteil der europäischen Sprachen gehört zu gerade einmal drei Sprachfamilien. Kenntnisse über diese Sprachverwandtschaften können deshalb eine enorme Lernhilfe sein.

Von Dr. Berthold Forssman

Wenn es um das Thema „Sprachen“ geht, bekomme ich oft Fragen wie „stimmt es, dass die Finnen die Esten verstehen?“ (die Liste der Sprachpaare lässt sich fortsetzen). Diese Vorstellung muss ich dann gleich zurechtrücken: Bedenkt man, dass wir teilweise nicht einmal die Dialekte unserer eigenen Muttersprache verstehen, wird deutlich, wie wenig Hörverständnis über Sprachverwandtschaften aussagt. Ich kenne nur wenige Sprachpaare, wo eine Verständigung ohne größere Vorbildung möglich ist. Dazu gehören Tschechisch und Slowakisch, Bulgarisch und Mazedonisch sowie Schwedisch und Norwegisch. Dänisch ist im Schriftbild so ähnlich, dass Schweden es relativ leicht lesen können, aber wegen der Unterschiede in der Aussprache müssen sich Schweden und Dänen erst einhören, um sich gegenseitig zu verstehen. Vom Spanischen kommend fand ich es relativ einfach, mich in das Portugiesische einzulesen – aber es zu verstehen war mühsam bis unmöglich. Der Grund für die relativ schnelle Annäherung an solche Sprachen ist die Tatsache, dass sie eng miteinander verwandt sind – aber in vielen Fällen reicht das allenfalls zum Lesen, nicht aber zum Verstehen.

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Die drei großen Sprachfamilien

Die meisten europäischen Sprachen gehören zu den drei indogermanischen Sprachgruppen Germanisch, Romanisch und Slawisch. Deutsch ist eine germanische Sprache, und die Ähnlichkeit zum Niederländischen, aber auch die Verwandtschaft mit dem Schwedischen, Dänischen oder Englischen ist leicht zu erkennen. Wer eine romanische Sprache wie Französisch oder Spanisch beherrscht, erkennt rasch auch die Ähnlichkeiten zum Italienischen oder Portugiesischen. Dasselbe gilt für die slawischen Sprachen wie Russisch, Ukrainisch, Polnisch, Tschechisch, Bulgarisch oder Slowenisch. Am Ende bleiben in Europa an indogermanischen Sprachen im Wesentlichen nur noch die baltischen Sprachen Litauisch und Lettisch, die keltischen Sprachen wie Irisch, Kymrisch und Bretonisch und die Einzelsprachen Griechisch und Albanisch übrig. Nicht zu den indogermanischen Sprachen gehören das Finnische, Estnische und Ungarische, die zur sogenannten Finnisch-ugrischen Sprachgruppe gehören. Das Finnische und das Ungarische sind die am weitesten voneinander entfernten Vertreter dieser Gruppe, und somit kann es getrost in das Reich der Legenden und Wandersagen verwiesen werden, dass sich Finnen und Ungarn irgendwie „verstehen“ könnten.

Spricht man Deutsch und (das recht spezielle) Englisch, kennt man zunächst einmal nur germanische Sprachen, hat aber gute Grundvoraussetzung für Sprachen wie Schwedisch oder Dänisch. Mit Latein- oder Französischkenntnissen fällt wiederum der Einstieg in eine weitere romanische Sprache deutlich leichter. Die slawischen Sprachen sind in (West-)Deutschland relativ wenig bekannt, doch wer einmal Russisch gelernt hat, weiß sehr wohl, wie viel einem dann in Ländern wie Kroatien, der Slowakei oder Bulgarien bekannt vorkommt. Wer also bereits eine germanische, romanische oder slawische Sprache beherrscht und eine weitere Sprache aus der jeweils gleichen Gruppe lernen will, ist klar im Vorteil.

Lang lebe das Lautgesetz!

Von den eingangs genannten Sprachpaaren einmal abgesehen, funktioniert es also mit dem Hörverständnis und der gegenseitigen Verständigung schlecht bis gar nicht. Der Grund sind in vielen Fällen vor allem lautliche Veränderungen in der Einzelsprache. Ihnen können wir mit der Hilfe von Lautgesetzen auf die Spur kommen: (Vulgär-)Lateinisch pl- ist im Italienischen zu pi- und im Spanischen zu ll- geworden, im Französischen ist es erhalten geblieben – man vergleiche piovere, llover und pleuvoir („regnen“) oder pieno, lleno und plein („voll“). Dafür sehen wir, dass sich bei den französischen Vokalen viel mehr verändert hat. Wenn ich sage, dass ich es relativ schnell gelernt habe, Rumänisch zu lesen, werde ich oft erstaunt angeschaut. Aber es ist eben auch eine romanische Sprache, und mit Hilfe einiger Lautgesetze lässt sich eine ganze Menge ziemlich rasch aufschlüsseln – und das ist viel einfacher und unterhaltsamer als Vokabelpauken. Durchschaut man außerdem die grammatischen Strukturen einer Sprache, ist eine weitere wichtige Hürde genommen. Aber es bleibt die Tatsache, dass Lesen oft deutlich schneller und leichter zu erlernen ist als das Verstehen.

Siehe hierzu auch:
Schwieriger geht immer – aber gilt das auch für Sprachen?
Wie alt sind Europas Sprachen?
Wie schwierig ist Estnisch?
Internationalismen: Wie universell sind sie wirklich?

 

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!