Lettisch-Übersetzer sind global betrachtet eine wahrhaft seltene Spezies. Deshalb ist es umso spannender, wenn sie einmal im Jahr aus aller Welt zu einem Treffen in Riga zusammenkommen!
Für mich gehören die alljährlichen Lettisch-Übersetzertreffen in Riga ganz klar zu den Höhepunkten im Kalender! Aber wie kam es dazu, und wie genau hat man sich eine solche Veranstaltung vorzustellen? Die Idee stammte einst von der lettischen Literaturplattform „Latvian Literature“, und inzwischen ist es den Organisatorinnen gelungen, eine mehr oder weniger feste Gruppe Übersetzerinnen und Übersetzer aus der halben Welt zusammenzubringen, die Literatur aus dem Lettischen in ihre jeweilige Muttersprache übersetzen.
Wenn die Minderheit auf einmal die Mehrheit ist
Natürlich nimmt jede und jeder von uns im eigenen Land eine mehr oder weniger exotische Sonderrolle ein, und in Japan oder Indien ist sie mit Sicherheit noch ausgeprägter als beispielsweise in Estland oder Litauen. Aber auf einmal treffen hier Leute aufeinander, die in der Vergangenheit viele ähnliche Erfahrungen gemacht und mindestens eine wichtige Gemeinsamkeit haben, nämlich das Interesse an und die Auseinandersetzung mit der lettischen Sprache. Besonders lustig ist es, wenn wir mit einer Kollegin zusammensitzen, die gerade vielleicht sogar den gleichen lettischen Text übersetzt. So gibt es Nora Ikstenas Roman „Muttermilch“ inzwischen in mehreren Sprachen, und mehrere der Übersetzerinnen haben sich vorher schon einmal in Riga getroffen.
Übrigens übersetzen wir nicht nur Romane, sondern auch Kurzgeschichten, Spiel- und Dokumentarfilme, Theaterstücke, Ausstellungskataloge, Textauszüge für Lesungen oder Kinderbücher. Bei Vorträgen und Seminaren, aber auch bei Streifzügen durch Rigas Buchhandlungen lernen wir die Neuerscheinungen kennen, oder wir bekommen Tipps von den anderen Anwesenden. Ein Erlebnis der besonderen Art war für mich, die Verfilmung des von mir aus dem Lettischen ins Deutsche übersetzten Romans „Homo novus“ in Riga im Kino zu sehen. Den von mir übersetzten Klassiker „Straumēni“ von Edvarts Virza sah ich nach einem Besuch im Rigaer Freilichtmuseum in einem neuen Licht. Und wenn die Zeit dann noch für einen Strandspaziergang in Jūrmala reicht, ist auch der Kopf wieder frei.
“Weltsprache“ Lettisch
Und wie unterhalten wir uns in den Pausen oder beim gemütlichen Beisammensein miteinander? Womöglich auf Englisch? Aber nicht doch! Falls ich einmal zufällig beim Frühstück im Hotel oder abends in der Kneipe mit anderen deutschen Muttersprachlern zusammensitze, reden wir natürlich Deutsch. Doch sobald sich eine Finnin, Litauerin oder Polin dazu setzt, schalten wir automatisch auf Lettisch um – so lautet das ungeschriebene Gesetz! Natürlich schimmert unsere jeweilige Herkunft und Mentalität auch in der Fremdsprache durch, ob nun durch den Akzent, die Gestik oder das Temperament. Bemerkenswert ist übrigens, wie höflich und diszipliniert Diskussionen sind, wenn alle eine Fremdsprache sprechen – gerade wenn es auch noch Literaten sind, die ganz besonders auf eine gepflegte Diktion und Grammatik achten. Und unsere lettischen Gastgeberinnen und Organisatorinnen amüsieren sich königlich, wenn sie Zeuginnen eines lebhaften Gesprächs auf Lettisch zwischen einem Deutschen, einer Armenierin, einem Esten und einer Japanerin werden!
Siehe hierzu auch:
• Rigas Freilichtmuseum: auf den Spuren von Straumēni
• Filme übersetzen: Spaß und Herausforderung in einem
• Warum mich Fernsehkrimis immer wieder nerven
• „Jūrmala – Höhen und Tiefen eines Ostseebades“
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!