Wer in Deutschland weiß schon genau, wo die Memel fließt? Die Litauer wissen es dafür umso besser: Für sie ist der Fluss die Lebensader ihres Landes – und gerne empfehlen sie ihren Besuchern heute das am Nordufer gelegene Memelland mit dem Memeldelta.
Bei einer Reportagereise nach Litauen hatte ich viele Themen im Gepäck, aber die Memel stieß bei den Rundfunksendern auf besonders großes Interesse. Irgendwie kennt man diesen Fluss doch zumindest dem Namen nach aus einer nicht mehr gesungenen Strophe der deutschen Nationalhymne – und stellt gleichzeitig fest, dass man nur sehr wenig über ihn weiß.
Die Memel entspringt in Belarus, ab der litauischen Grenze trägt sie den Namen Nemunas. In dem niedlich-verschnarchten Örtchen Smalininkai (deutsch: Schmalleningken) beginnt das eigentliche Memelland, ein nördlich des Flusses gelegener Landstreifen, der bis zur Hafenstadt Klaipėda reicht. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte das Gebiet zu Ostpreußen und somit zu Deutschland, dann kam es zu Litauen. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Memel aber keine Sprachgrenze: Auf beiden Seiten des Flusses wurde sowohl Deutsch als auch Litauisch gesprochen. Heute gehört das südliche Flussufer zur russischen Exklave Kaliningrad, doch sind kaum Sperranlagen auszumachen: Die EU-Außengrenze wird auch hier überwiegend elektronisch kontrolliert.
Das Memeldelta: Nostalgie und Klapperstörche
Besonders eindrücklich ist der Blick vom Rambyno kalnas, einer Anhöhe direkt am Flussufer, von der man weit auf russisches Gebiet blicken kann. In der Ferne erahnt man sogar Sowjetsk (das einstige Tilsit), wo die Königin-Luise-Brücke heute den einzigen Grenzübergang weit und breit bildet. Weiter flussabwärts teilt sich die Memel in viele Mündungsarme, und dieses Memeldelta mit seinen unzähligen Wasserläufen ist auf jeden Fall ein Höhepunkt der Region. Es gibt nur wenige Ortschaften, und oft muss man bis zur nächsten Brücke einen großen Umweg machen. In dem Dorf Minija bildet der gleichnamige Flussarm sogar die Dorfstraße: Wer von seinen Nachbarn gegenüber eine Tasse Zucker leihen will, muss in einen Kahn steigen.
Überall gluckst Wasser, und ständig hört man die Stimmen vieler Vögel, in die sich auch das Klappern fast ebenso vieler Störche mischt. Überall sieht man sie durch feuchte Wiesen stolzieren und stellt bald fest, dass Storchennester hier überhaupt nichts Besonderes sind. Die Litauer nennen diese Region gerne „Kleinlitauen“ und beziehen dabei manchmal auch Gebiete südlich des Flusses mit ein. Von den litauischsprachigen oder -stämmigen Bewohnern im einstigen Ostpreußen künden bei uns bis heute unter anderem einige Nachnamen auf -eit wie Siemoneit, Grigoleit oder Wowereit – in Letzterem erkennt man übrigens litauisch voverė „Eichhörnchen“ wieder. Und als während der Russifizierungskampagnen im Zarenreich nördlich des Flusses der Druck litauischer Bücher verboten war, wurden sie dafür in Ostpreußen gedruckt und heimlich über die Memel geschmuggelt.
Der Blick auf die Nehrung
Am Ende münden die vielen Flussarme ins Kurische Haff. Am Leuchtturm von Ventė bietet sich ein herrlicher Blick über das Wasser und die Kurische Nehrung, die das Haff von der offenen Ostsee abschirmt. Die Nehrung genießt inzwischen auch bei uns einen wachsenden Bekanntheitsgrad. Das liegt nicht nur an ihren wunderbaren Dünen, Wäldern und Stränden, sondern auch am einstigen Ferienhaus von Thomas Mann in Nida, das heute ein deutsch-litauisches Kulturzentrum beherbergt. Auch wenn das Memelland heute keine Grenzregion zwischen Deutschland und Litauen mehr ist und innerhalb Litauens etwas abseits liegt: Die Spuren der Vergangenheit sind vielerorts lebendig, und immer mehr alte Häuser werden liebevoll restauriert – auch und gerade in Klaipėda, dem alten Memel und der größten Stadt der Region.
Siehe hierzu auch:
• Mit dem Mikrofon durch Litauen
• Kurland und die Kurische Nehrung
• Wechselnde Grenzerfahrungen
• Litauen: Europas vergessene Großmacht
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Mehr vom und über den Autor erfahren Sie hier!