Nur ein schmales Flüsschen trennt den Stadtteil Užupis vom Zentrum der litauischen Hauptstadt Vilnius. Das einstige Elendsquartier ist heute ein angesagtes Szeneviertel, hat aber noch immer Einiges von seinem eigentümlichen Charme bewahrt – und nennt sich stolz „Republik“.
Die Altstadt von Vilnius ist wunderschön, und mit ihren niedrigen Barockhäuschen entfaltet sie stellenweise fast kleinstädtischen Charme. Steigt man jedoch zum Flüsschen Vilnia herab, erwartet einen am anderen Ufer geradezu eine andere Welt: Nur einen Steinwurf vom Zentrum entfernt und auf drei Seiten von Wasser umgeben liegt der Stadtteil Užupis, wörtlich „Hinter-Fluss“.
Užupis als Armeleuteviertel …
Lange hatten in Užupis vor allem Juden gelebt. Nach ihrer Deportation durch die Nazis bezogen Obdachlose, Alkoholiker und Prostituierte die leer stehenden Gebäude. Das Viertel wurde zum Symbol für Verfall, Armut und Kriminalität, und viele Jahre lang machte man lieber einen Bogen um Užupis. Bei meinem ersten Besuch dort Anfang der neunziger Jahre war ich geradezu schockiert. Zwar war ich von meinen Reisen durch Osteuropa allerhand gewöhnt, aber hier herrschte eine ganz besonders trostlose Schäbigkeit, durchweht von Modergeruch. Aber nur wenige Schritte weiter folgte auf einmal eine fast dörfliche Idylle mit dem romantischen Bernhardiner-Friedhof. Und dann gab es noch den ständig murmelnden Fluss mit seiner üppigen Uferbewachsung und den Blick auf die auf einer Anhöhe gelegene barocke Himmelfahrtskirche. Selten habe ich in einer europäischen Großstadt so viele überraschende Perspektivwechsel und Kontraste auf so engem Raum erlebt!
Natürlich ging von diesem morbiden Verfall auch stets eine gewisse Faszination aus. Der litauische Schriftsteller Jurgis Kunčinas (1947-2002) widmete dem heruntergekommenen Užupis mehrere Werke, darunter seinen (auch auf Deutsch erschienenen) Roman „Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons“. Über weite Strecken liest sich seine Beschreibung des Verfalls wie ein Liebeslied an den eigentümlichen Stadtteil. Auch lockte die nahegelegene Kunstakademie Studenten, Künstler und Bohemiens nach Užupis mit seinen niedrigen Mietpreisen und der romantischen Lage am Fluss. Hier gab es keinen Komfort, dafür aber pitoreske Barockhäuschen, Ursprünglichkeit – und Extravaganz.
… und sein Aufstieg zum angesagten Szenekiez
Und so stellte ich bei jedem Besuch in Vilnius fest, dass sich wieder etwas verändert hatte. Immer mehr Häuser bekamen einen frischen Anstrich, und doch schlurften dort auch ungepflegte Menschen in zerlumpten Kleidern herum, roch es muffig aus Erdgeschosswohnungen mit blinden oder zerbrochenen Fenstern, gab es Hinterhöfe, die man lieber nicht betreten wollte. Natürlich ist das Viertel seither auch teurer geworden, werden angestammte Bewohner zunehmend verdrängt oder sind es schon. Kunčinas hat diesen Wandel nicht mehr erlebt, ihn aber in seiner „Blanchisserie“ zumindest geahnt: Dort warnte er – wenngleich satirisch übersteigert – schon 1999 vor „Bodenpreisen wie in Hongkong“.
Die eigen(willig)e Republik Užupis
Bekanntheit über Vilnius und Litauen hinaus erlangte Užupis schließlich, als besonders kecke Bewohner dort auf weniger als einem Quadratkilometer Fläche eine eigene „Republik“ ausriefen, mit eigener Verfassung und Hymne und dem 1. April als Nationalfeiertag. Natürlich war das Ganze nicht wirklich ernst gemeint, aber für die Szene von Vilnius ist die „Užupio Respublika“ eine Art Freiraum geworden. Stolz und selbstbewusst vergleicht man sich mit Künstlervierteln wie dem Montmartre oder mit der Freistadt Christiania in Kopenhagen. Zu den Treffpunkten gehört die „Užupio kavinė“, einst ein heruntergekommener Bau am Fluss und jetzt erweitert um einen gemütlichen Biergarten auf Stelzen direkt über dem Fluss. Ja, es hat sich viel verändert – aber zu meiner Beruhigung stelle ich auch jedes Mal fest, dass es doch noch ein paar Winkel gibt, in denen das alte Užupis von Jurgis Kunčinas weiterlebt.
Siehe hierzu auch:
• Mit dem Mikrofon durch Litauen
• Litauen: Europas vergessene Großmacht
• Litauens Atomstadt vollzieht den Neustart
• Das Memelland – wenig bekannt und traumhaft schön
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!