Heißt es nicht immer wieder, man lerne Land und Leute am besten beim Essen kennen? Was Estland, Lettland und Litauen betrifft, kann ich das nur bestätigen – und in den Küchen habe ich nicht nur die Speisen dieser Länder genießen können, sondern auch ihre Rezepte gelernt – und ihre Sprachen.
Traditionelle Küche basiert üblicherweise auf den Zutaten, die ein Land und eine Region hervorbringen. Natur, Landschaft und Klima ändern sich in der Regel nicht abrupt an einer Landesgrenze, und vermutlich gibt es nichts, das Grenzen so leicht überspringt wie die Art zu kochen. Das gilt natürlich auch für Estland, Lettland und Litauen, deren Küchen viele Gemeinsamkeiten untereinander aufzuweisen haben. Dass es nicht an finnischen, schwedischen oder russischen Einflüssen fehlt, dürfte ebenfalls kaum jemanden erstaunen.
Typisch Baltikum?
Es ist also gar nicht so einfach, eine typisch „baltische“ Küche auszumachen, und auch die estnische, lettische oder litauische Küche haben nur wenige klassische Alleinstellungsmerkmale. Ein paar Unterschiede gibt es jedoch: Das Klima ändert sich, je weiter man nach Norden kommt, und Estland und Lettland haben beispielsweise eine viel längere Küste als Litauen. Der polnische Einfluss macht sich in Litauen aus historischen Gründen stärker bemerkbar, in Estland spürt man umso stärker die Nähe zu Finnland. Typisch für alle drei Länder (wenn auch nicht nur für sie) ist die häufige Verwendung von saurer Sahne. Auch rote Bete kommt viel häufiger auf den Speisezettel als bei uns. Gewürzt wird viel mit Kräutern, darunter vor allem mit Dill, aber auch mit Kümmel.
Viele Gerichte wirken auf uns sehr bodenständig, denn es dominieren Bestandteile wie Schweinefleisch, Speck, Kartoffeln und Sauerkraut sowie ein ganz spezielles Schwarzbrot. Gekochte Teigtaschen, ähnlich den russischen Pelmeni, sind überall beliebt, ebenso mit Mayonnaise angerichtete sättigende Salate, und natürlich gibt es in so waldreichen Ländern unzählige Pilzgerichte. Beeren aus dem Wald oder aus dem eigenen Garten werden gesammelt, eingemacht und als Marmelade oder Kompott zu Pfannkuchen gegessen. Das Nationalgetränk ist Bier, aber auch Wodka wird nicht verschmäht. Wirklich typisch litauisch sind die sogenannten Cepelinai, mit Fleisch gefüllte Kartoffelklöße, und die „grauen Erbsen“ habe ich bislang nur in Lettland gegessen. Auch finde ich die gefüllte Kalbsbrust, „täidetud vasikarind“ recht typisch estnisch wie auch spezielle Gerichte für eine Saunaparty.
Treffpunkt Küchentisch
Längst gibt es Supermarktketten, die in Estland, Lettland und Litauen präsent sind. Trotzdem unterscheidet sich ihr Sortiment, stellen Filialleiterinnen unterschiedliche Vorlieben und Konsumgewohnheiten fest. Besonders gut beobachten lässt sich dies in der Zwillingsstadt Valga in Estland und Valka in Lettland mit ihrer mittlerweile unsichtbaren Grenze. Viele Letten kaufen doch lieber auf ihrer Seite ein, weil dort die Sachen genau so schmecken, wie sie es gewohnt sind und schätzen. Am besten isst man bekanntlich zu Hause, und der Küchentisch ist nach wie vor der Lebensmittelpunkt vieler Familien. Hier habe ich übrigens auch meine Sprachkenntnisse beträchtlich erweitert: Zum einen in der fröhlichen Runde, zum anderen aber auch in den Zeiten, als die Großmütter in der Küche eine feste Institution waren. Sie hatten Zeit, waren geduldig, sprachen oft keine weiteren Fremdsprachen, und hatte eine klare Aussprache. Wenn man mich also fragt, wo ich Estnisch, Lettisch und Litauisch gelernt habe, sage ich gerne scherzhaft: „Zuhause bei der Oma in der Küche.“
Siehe hierzu auch:
• Ein lettisches Sommermärchen
• Litauen: Europas vergessene Großmacht
• Baltische Staaten, Baltenrepublik – wie sinnvoll sind diese Bezeichnungen?
• Talsinki – Europas neue Metropolregion
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!