Bei uns wird der Wiederaufbau zerstörter historischer Gebäude schnell zum Politikum. Im Baltikum sieht man das meistens entspannter – selbst wenn eine Rekonstruktion aus dem Nichts erfolgt.
Mein erster Besuch in Estland ist für mich unvergesslich. Das Erlernen einer eher seltenen Fremdsprache, diese Flut von Eindrücken – das alles wirkt bis heute nach. Ich kam mit dem Zug von Riga nach Tartu und lernte dort gleich am ersten Abend per Zufall eine estnische Familie kennen. Man lud mich für später zu sich nach Hause ein, und die älteste Tochter bot an, mir die Stadt zu zeigen. Obwohl in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen, rümpfte die junge Frau immer wieder die Nase und erklärte lapidar: „Das haben die Russen gebaut. Aber das reißen wir jetzt alles ab und machen es so schön wie vorher.“
Wiederaufbau als Selbstverständlichkeit
Während bei uns Projekte wie der Wiederaufbau von Einzelbauten wie dem Berliner Stadtschloss oder der Dresdner Frauenkirche für leidenschaftliche Debatten sorgen, galten beispielsweise der Wiederaufbau der Johanniskirche im estnischen Tartu oder die Rekonstruktion des Schwarzhäupterhauses in der lettischen Hauptstadt Riga quasi als ausgemachte Sache. Eine Wiederbelebung des deutschen Erbes durch die Rekonstruktion der historischen Altstadt im litauischen Klaipėda, dem ehemaligen Memel? Kein Problem – ganz im Gegensatz zu Debatten bei uns über die Wiederherstellung einer „guten Stube“ wie in Frankfurt oder Hildesheim.
Natürlich laufen und liefen solche Vorhaben auch in Estland, Lettland und Litauen nicht ohne Widerspruch ab. Hinterfragt wurden immer wieder die Kosten, beispielsweise beim Wiederaufbau des Großfürstlichen Schlosses in Vilnius mitten in der Finanzkrise. Auch durchaus bedenkenswerte architekturhistorische Argumente wurden angeführt: So wurde im 19. Jahrhundert neben den letzten Grundmauern des alten Schlosses eine klassizistische Kathedrale errichtet, während sich dahinter auf einem Hügel der aus dem Mittelalter stammende Gediminas-Turm erhebt. Es gab also nie eine Zeit, in der alle drei Gebäude nebeneinander zu sehen waren.
Weniger Berührungsängste mit der eigenen Geschichte?
Besonders bemerkenswert fand ich allerdings, dass sogar alte Burgruinen wieder aufgebaut wurden. Auf diese Idee war ich gar nicht erst gekommen – es klang für mich in etwa so, als wollte man das Kolosseum in Rom in seiner antiken Form wiederauferstehen lassen. Aber trotzdem konnte ich Schritt für Schritt beziehungsweise von Besuch zu Besuch feststellen, wie die Burg Turaida in Lettland oder das Wasserschloss im litauischen Trakai immer vollständiger wurden – und zwar ganz ohne aufgeregte öffentliche Debatten.
Siehe hierzu auch:
• Litauen: Europas vergessene Großmacht
• Das Memelland – wenig bekannt und traumhaft schön
• „Riga – Perle des Jugendstils“
• Mit dem Mikrofon durch Litauen
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!