Über Litauens Geschichte ist heute oft nur wenig bekannt – und dabei war Litauen jahrhundertelang sogar eine europäische Großmacht.
In der Sowjetunion wurden die bis dahin unabhängigen Staaten Litauen, Lettland und Estland ungeachtet ihrer sprachlichen, kulturellen und historischen Eigenheiten als „baltische Republiken“ zusammengefasst. Das wirkt bis heute fort: Litauen wird oft mit Lettland verwechselt oder erhält unnötige Zusatzbezeichnungen wie „baltischer Staat“ oder „Baltenrepublik“. Dabei hat es eine ganz andere historische Entwicklung durchlaufen als Lettland oder Estland.
Das Großfürstentum Litauen als europäische Großmacht
Im 13. Jahrhundert begannen Kreuzritter des Deutschen Ordens mit der Eroberung des östlichen Ostseeraums. Dort lebten baltische Stämme, die Vorfahren der heutigen Litauer und Letten, sowie die ostseefinnischen Völker der Esten und Liven. Während die Territorien der heutigen Staaten Estland und Lettland von den Kreuzrittern unterworfen wurden, widersetzten sich die Litauer den Eindringlingen. Ihre Großfürsten Vytenis, Gediminas und Algirdas trieben außerdem die Expansion ihres Reichs nach Südosten voran. Auf dem Höhepunkt seiner Macht umfasste das litauische Großfürstentum auch in etwa die Gebiete der heutigen Staaten Ukraine und Belarus und reichte von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Zentrum dieses Großreichs war zuerst Trakai mit seiner bekannten Wasserburg, 1323 gründete Gediminas die heutige litauische Hauptstadt Vilnius.
Der litauisch-polnische Staatenbund
1386 ging Litauen eine Union mit dem Königreich Polen ein, und 1410 besiegte der litauische Großfürst Vytautas in der Schlacht bei Tannenberg (Grunwald) den Deutschen Orden. 1569 festigten Litauen und Polen ihren Staatenbund durch die sogenannte Lubliner Union. Es entstand eine Adelsrepublik, die bis Ende des 18. Jahrhunderts bestand und im Zuge der polnischen Teilungen nach und nach von der europäischen Landkarte verschwand. Erst ab diesem Zeitpunkt teilte Litauen das Schicksal Lettlands und Estlands, die schon vorher an das russische Zarenreich gefallen waren.
Die Folgen dieser engen Bindungen zu Polen sind in Litauen bis heute zu spüren – und sorgen oft genug auch für Streit über die Deutungshoheit über die gemeinsame Geschichte. Vor allem aber fühlen sich die Litauer als Erben einer europäischen Großmacht und wundern sich oft genug, wie wenig die übrigen Europäer heute davon wissen. Die Namen der früheren Könige und Großfürsten wie Mindaugas, Gediminas, Algirdas, Vytautas oder Kęstutis sind überaus beliebte Vornamen, und bis heute ist Litauen wie Polen stark katholisch geprägt. Lettland wurde dagegen sprachlich und kulturell von Deutschland beeinflusst und im 16. Jahrhundert evangelisch-lutherisch. Ist in der lettischen Hauptstadt Riga das hanseatische Erbe unübersehbar, ist es in Vilnius der Barock. Bis heute lieben die Litauer die Symbole ihrer einstigen Großmacht. So wurde auch mit viel Aufwand das im 18. Jahrhundert zerstörte und später abgetragene großfürstliche Schloss in Vilnius wiederaufgebaut und ab 2009 für Besucher eröffnet – damit auch ja niemand vergisst, wie mächtig Litauens einst war.
Siehe hierzu auch:
• Baltische Staaten, Baltenrepublik – wie sinnvoll sind diese Bezeichnungen?
• Estland und Lettland – die fremden Freunde
• Kurland und die Kurische Nehrung
• Die Liven – ein fast vergessenes Volk
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!