Estland und Lettland werden bei uns oft einfach als „baltische Staaten“ in einen Topf geworfen oder sogar miteinander verwechselt. Aber wie ähnlich sind sich diese beiden Länder überhaupt?
Wenn ich meine lettischen Freunde in Riga besuche, versuche ich immer, wenigstens auch einen Abstecher zu meinen estnischen Freunden nach Tallinn zu machen (und umgekehrt). Es gibt allerdings keine durchgehende Bahnverbindung, und die rund 300 Kilometer lange Fahrt mit dem Bus ist seit dem Beitritt beider Länder zum Schengenraum zwar etwas schneller geworden, weil der Halt an der Grenze entfällt. Auch ist die Via Baltica inzwischen recht gut ausgebaut, wenn auch keine Autobahn in unserem Sinne. Trotzdem benötigt man von Busbahnhof zu Busbahnhof rund fünf Stunden und von Tür zu Tür entsprechend länger. Um also gleich mit dem ersten gängigen Vorurteil aufzuräumen: Die Bewohner von Riga oder Tallinn fahren schon allein wegen dieser Entfernung nicht mal eben schnell zum Kaffeetrinken ins Nachbarland, und wer Urlaub im „Baltikum“ machen will, wird sehr schnell feststellen, dass die Abstände deutlich größer sind als gemeinhin angenommen.
Aufräumen mit Vorurteilen
Wenn ich dann also in Riga meine Reisepläne bekannt gebe, bekomme ich meistens die erstaunte Frage zu hören: „Was willst du eigentlich immer bei diesen Esten? Die sind doch so merkwürdig, und nicht mal reden kann man mit denen.“ Das ist natürlich humorvoll gemeint, denn das Verhältnis der beiden Nachbarn ist – zumindest auf persönlicher Ebene – durchaus wohlwollend und entspannt. Wenn ich dann in Tallinn eintreffe, fragen mich meine Freunde sofort neugierig: „Sag mal, was ist denn zurzeit in Lettland so los? Von dort kriegen wir ja gar nichts mit.“ Der Grund dafür ist zunächst einmal ganz banal: Estnisch und Lettisch sind so eng miteinander verwandt wie Deutsch und Türkisch, nämlich überhaupt nicht. Trotzdem gehen bei uns seltsamerweise viele davon aus, dass kleine benachbarte Länder auch ähnliche Sprachen haben müssten. Nein, das müssen sie nicht und haben sie in diesem Fall auch nicht. Und nein, Estnisch und Lettisch sind keine slawischen Sprachen wie etwa Russisch und auch nicht so etwas Ähnliches, und nein, sie verwenden keine kyrillische Schrift und haben das auch nie getan.
Folglich gibt es auch keine nennenswerte wie auch immer geartete „baltische Öffentlichkeit“ und auch keine übergreifende „baltische Debatte“: Was nicht in einer Drittsprache gesagt oder übersetzt wird, kann man im Nachbarland nicht einmal ansatzweise lesen oder verstehen. Ein estnischer Roman erscheint also erst einmal nur in Estland und auch nur dort, und lettisches Fernsehen wird nur in Lettland gesehen. Tatsächlich fuhr man zu Sowjetzeiten wegen der allgegenwärtigen Mangelwirtschaft gelegentlich zum Einkaufen hin und her, und dann bediente man sich des Russischen wie auch sonst so oft im Alltag. Das Russische war aber weder Esten noch Letten irgendwie angeboren oder auf wundersame Weise in die Wiege gelegt, und es war und ist für sie nicht weniger mühsam zu erlernen als für uns. Seit der Unabhängigkeit wird an den Schulen vor allem Englisch gelernt, weshalb allenfalls die Generation Ü50 noch auf Russisch kommuniziert.
Partner und Konkurrenten in Einem
Die sogenannten baltischen Staaten mögen das Schicksal der sowjetischen Besatzung miteinander teilen, aber heute sind sie oft genug Konkurrenten und vertreten in vielen Fällen durchaus unterschiedliche Meinungen und Interessen. Das kann zu Missverständnissen, massiven Reibereien und sogar Konflikten führen. „Die Esten schauen immer nur nach Finnland“, klagen die Letten manchmal. Tatsächlich ist das Estnische eng mit dem Finnischen verwandt, und man orientiert sich in Estland eher an den nordischen Ländern, während die Letten Mitteleuropa stärker im Blick haben. Auf beiden Seiten gibt es jede Menge Stereotype oder sogar Vorurteile. Unvergessen sind mir Kneipenbesuche in Lettland, bei denen den ganzen Abend lang Estenwitze erzählt wurden – und in Estland singt man zu bierseliger Stunde schon auch mal Spottlieder auf Lettland zum Stampfen, Schunkeln und Mitsingen. Immerhin: Esten wie Letten sind gleichermaßen sangesfreudig, in beiden Ländern sind Sauna, Gärten und Pilzesuchen unverzichtbare Bestandteile des Lebens und ist an Mittsommer alles außer Rand und Band. Viele Esten machen heute Urlaub an Lettlands Sandstränden, Letten besuchen gern die großen estnischen Inseln. Und allem Gefrotzel zum Trotz: Man ist sich grundsätzlich sympathisch, und treffen Esten und Letten im Ausland aufeinander, fallen sie sich sofort in die Arme.
Tatsächlich gibt es aber auch interessante historische Berührungspunkte zwischen Estland und Lettland, die keineswegs allen bewusst sind. Das ursprünglich in weiten Teilen des heutigen Lettland gesprochene Livische ist mit dem Estnischen verwandt und hat das Lettische stark geprägt. Im Mittelalter wurde das Gebiet der heutigen Staaten Estland und Lettland von Deutschland aus erobert und in die drei Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland unterteilt. Diese gehörten ab 1721 zu Russland, doch bildeten Deutsche weiter die herrschende Schicht. Der kulturelle (und auch sprachliche) deutsche Einfluss erstreckte sich also vor allem auf Estland und Lettland, nicht jedoch auf Litauen. Estland und Lettland haben somit historische Parallelen aufzuweisen, liegen dafür aber sprachlich weit auseinander. In Lettland und Litauen werden dagegen zwar baltische Sprachen gesprochen, doch sind sich diese nicht besonders ähnlich – auch weil das Lettische durch das Livische und Deutsche beeinflusst wurde. Man täte bei uns also gut daran, erst einmal zu respektieren, dass Estland und Lettland in erster Linie nicht einfach „baltische Staaten“, sondern eigenständige Länder mit einem eigenen Namen sind und dass sie sich nicht für ihre Verschiedenartigkeit rechtfertigen müssen. Vielmehr müssten wir uns fragen, warum wir sie ständig ungefragt in einen Topf werfen. Mir jedenfalls erscheinen sie oft wie Freunde – nur dass sie sich kaum kennen und gegenseitig nicht verstehen.
Siehe hierzu auch:
• Auf Spurensuche in Riga
• Die Liven – ein fast vergessenes Volk
• Hansedeutsch: die einstige Lingua franca im Ostseeraum
• Wie schwierig ist Estnisch?
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!