Das lettische Freilichtmuseum in Jugla bei Riga ist ein ausnehmend schöner Ort. Zu sehen sind nicht nur historische Holzbauten aus allen Regionen Lettlands, sondern es eröffnet sich auch eine ganz neue Perspektive auf einen Klassiker der lettischen Literatur: „Straumēni“ von Edvarts Virza.
Bei meinem ersten Besuch in Riga Anfang der neunziger Jahre zeigten mir meine Freunde auch gleich das lettische Freilichtmuseum (auf lettisch:
Latvijas Etnogrāfiskais brīvdabas muzejs) am östlichen Rand der Stadt. Alles war tief verschneit, der angrenzende Jugla-See zugefroren. Trotzdem war es ein eindrückliches Erlebnis, und ich nahm mir fest vor, noch einmal im Sommer hierher zu kommen. Und wie schön war es da! Alles war grün, die Gärten standen in voller Pracht, und der See glitzerte in der Sonne. Zwar kannte ich schon den Stockholmer „Skansen“ und andere Freilichtmuseen, aber hier herrschte doch eine ganz besonders urtümliche Stimmung.
Auf den Spuren von Straumēni
2018 erhielt ich den Auftrag, den lettischen Klassiker „Straumēni“ von Edvarts Virza zu übersetzen. Das war gleich in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Projekt: Erstens kennt das Buch in Lettland quasi jeder, zumindest dem Namen nach. Zweitens ist es immer eine ganz besondere Herausforderung, das Werk eines bereits verstorbenen Autors zu übersetzen – denn wen soll man fragen, wenn etwas unklar ist? Und drittens beschreibt „Straumēni“ ausführlich das Leben auf dem Land im 19. Jahrhundert und enthält zahlreiche Begriffe, die einer Mehrheit der heutigen Leser weitgehend unbekannt sein dürften.
Korndarre, Pirts und Klete
Schwierigkeiten bereiteten mir nicht nur die mannigfachen landwirtschaftlichen Geräte und ihre jeweilige Funktion, sondern auch die Schilderungen der einzelnen Gebäude des fiktiven Gehöfts „Straumēni“. Eine „Pirts“, also die lettische Variante der estnischen und finnischen Sauna, konnte ich mir natürlich gut vorstellen und kannte ich sogar aus eigener Erfahrung. Aber wie genau hat man sich eine „Korndarre“ vorzustellen? Oder gar eine „Klete“? Was ist das überhaupt? Von einer Tenne haben wir vielleicht schon gehört, aber wie genau sieht so etwas aus? Wie ist ein Viehhof angelegt? Natürlich fand ich Bilder und Erklärungen im Internet, aber manche Beschreibungen blieben doch vage oder rätselhaft. So wird genau beschrieben, wie sich die Bewohner von Straumēni bei einem Hochwasser in den „Raum über der Stube“ zurückziehen. Aber wie dieser Raum beschaffen ist, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor – etwa eine Art Obergeschoss oder ein Dachboden? Davon hing im Übrigen oft auch die genaue Übersetzung anderer Stellen ab.
Eine Begegnung mit den Leuten von Straumēni
Als der Text schon beim Verlag war, reiste ich auf Einladung der Plattform „Latvian Literature“ zu einem Treffen mit Kollegen aus aller Welt nach Riga und nutzte die Zeit wieder einmal für einen Besuch im Museum am Jugla-See. Es war Dezember und entsprechend kalt und dämmrig, wenn auch noch ohne Schnee. Die Gebäude waren natürlich dieselben geblieben, aber jetzt war es ein ganz anderes Erlebnis, eine „Pirts“ zu sehen, eine „Klete“, eine „Korndarre“ und einen Viehhof. Einen Hof erkor ich heimlich zu meinem Vorbild von „Straumēni“, und auf einmal tauchte der Gemüsegarten aus dem Buch vor meinem inneren Auge auf. Im Gebäudeinneren blickte ich in den offenen „Raum über der Stube“, in den Rauchfang mit seinen Gestellen für Schinken und Würste, sah die an der Wand aufgehängten Mittsommerkränze. Wohlhabendere Höfe wie „Straumēni“ waren größer angelegt, hatten aber auch mehr Bewohner – und so stand ich nun in der Stube einer Gesindehälfte und stellte mir vor, wie hier einst bis zu 15 Leute gelebt haben mussten.
Eine alte Kirche aus Holz und ein Wirtshaus gibt es im Museum von Jugla natürlich auch, und dort werden Gerichte serviert, die auch in „Straumēni“ beschrieben werden und in Lettland nie aus der Mode gekommen sind. Edvarts Virza hatte beim Schreiben seines Buchs konkrete Bilder aus seiner eigenen Jugend vor Augen – aber in diesem Museum werden sie auch heutigen Lesern ein Stück weit lebendig!
Eine Rezension von „Straumēni“ finden Sie hier.
Siehe hierzu auch:
• „Riga – Perle des Jugendstils“
• „Jūrmala – Höhen und Tiefen eines Ostseebades“
• Die Markthallen in Riga: immer einen Besuch wert
Lettisch-Übersetzertreffen in Riga
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Mehr vom und über den Autor erfahren Sie hier!