Nur wenige europäische Hauptstädte liegen so nah beieinander wie Tallinn und Helsinki. Inzwischen sind die beiden Metropolen so eng miteinander verzahnt, dass die Bewohner scherzhaft von „Talsinki“ sprechen.
Nur rund 80 Kilometer sind es von Estlands Hauptstadt Tallinn nach Helsinki, und die Sprachen Estnisch und Finnisch sind eng miteinander verwandt. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg trennte die beiden Metropolen mehr als nur der Finnische Meerbusen: Estland gehörte zur Sowjetunion, und die historischen Verbindungen waren zwar nicht vollständig gekappt, aber doch stark eingeschränkt. Seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands bewegen sich die beiden Hauptstädte geradezu stürmisch aufeinander zu. Anfang der neunziger Jahre wurde der Fährverkehr zwischen Helsinki und Tallinn stark ausgebaut, und nachdem auch die Visumspflicht gefallen war, explodierten die Passagierzahlen geradezu. 2004 trat Estland der EU und 2007 dem Schengenraum bei, sodass sämtliche Kontrollen entfielen, und die Einführung des Euro in Estland 2011 machte auch das Geldwechseln überflüssig. Längst legen Schnellfähren die Strecke zwischen beiden Städten in gut anderthalb Stunden zurück.
Annäherung mit Hindernissen
Ganz reibungslos lief und läuft dieser Prozess freilich nicht ab. Zwar liegen in Europa nur die Hauptstädte Wien und Bratislava näher beieinander, aber der Finnische Meerbusen zwischen Tallinn und Helsinki lässt sich selbst mit dem allerbesten Willen nicht so schnell überwinden wie die Entfernung zwischen den beiden Donaumetropolen. Von den neuen Fährverbindungen profitierten am Anfang längst nicht alle: zu groß war zunächst das Wohlstandsgefälle. Für viele Esten war die Überfahrt zu teuer, während Tallinn schon bald von finnischen Touristen überschwemmt wurde, die in der pittoresken Altstadt ein attraktives Reiseziel sahen, aber auch scharenweise in die Kneipen, Biergärten und Alkoholläden einfielen.
Investitionen aus Finnland trugen maßgeblich zum estnischen Wirtschaftswunder und infolgedessen zu einer allmählichen Angleichung der Lebensverhältnisse bei. Je mehr die Preise in Tallinn mittlerweile EU-Durchschnitt erreichen, desto unattraktiver werden reine Einkaufsfahrten. Dafür arbeiten immer mehr Esten auf der anderen Seite der Bucht, und auch eine wachsende Zahl Finnen arbeitet oder lebt in Tallinn. Für tägliches Pendeln ist die Fahrt in der Regel allerdings zu teuer und zu aufwändig, außerdem können Eis im Winter und Stürme zu fast jeder Jahreszeit überraschend die Fahrpläne über den Haufen werfen. Das Selbstbewusstsein der Esten gegenüber dem „großen Bruder“ im Norden wächst, und so müssen die Finnen inzwischen zunehmend feststellen, dass sie in Tallinn längst nicht mehr davon ausgehen können, automatisch verstanden zu werden. Trotz der engen historischen Verwandtschaft zwischen Finnisch und Estnisch gibt es auch zahlreiche Unterschiede, und die einst verbreiteten Finnischkenntnisse unter Esten gingen in Wahrheit auf die Sowjetzeit zurück, als man in Tallinn „Westfernsehen“ aus Finnland empfangen konnte.
Kühne Zukunftsvisionen
Auch wenn es auf dem Weg der Annäherung allerhand Stolpersteine gab, so verlief er doch immer nach vorne. Schon Anfang der 1990er Jahre wurde das Kofferwort Talsinki geprägt, das die immer engeren Beziehungen zwischen den beiden Hauptstädten prägt. Diese könnten eines Tages in einem kühnen Projekt gipfeln: ein Eisenbahntunnel unter dem Finnischen Meerbusen. Dadurch würde eine Integration wie in der Öresund-Region um Kopenhagen und Malmö ermöglicht. Noch klingt ein solches Vorhaben wegen der technischen Herausforderungen und der hohen Kosten utopisch oder bestenfalls wie ferne Zukunftsmusik. Aber andererseits: Noch in den frühen 1980er Jahren konnten die meisten Esten nur von Tallinner Hochhausetagen oder vom Fernsehturm an sehr klaren Tagen das finnische Ufer erahnen – und wer von ihnen hätte damals gedacht, dass es eines Tages so etwas wie Talsinki geben würde?
Siehe hierzu auch:
• Wie schwierig ist Estnisch?
• Berlin-Tallinn per Zug: Wann geht das endlich wieder?
• Wechselnde Grenzerfahrungen
• Leben mit der Sauna als Mittelpunkt
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!