Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die livländische Stadt Walk zwischen den jungen Staaten Estland und Lettland aufgeteilt, und es entstanden Valga und Valka. Wie lebt es sich heute in der Zwillingsstadt zu beiden Seiten der Grenze?
Anfang der neunziger Jahre machte ich mit den anderen Teilnehmern meines Estnisch-Sprachkurses eine Exkursion durch Südestland. Dabei kamen wir auch in das unmittelbar an der lettischen Grenze gelegene Valga. Nicht alle der überwiegend finnischen Kursteilnehmer hatten ihre Pässe mitgenommen, aber die Grenzer ließen die Gruppe großzügig für einen kurzen Spaziergang auf die andere Seite. War für viele der Finnen Estland inzwischen ein geläufiges Reiseziel, war es für einige von ihnen der erste Besuch in Lettland. Mir ging es genau andersherum: Ich war zum ersten Mal in Estland und hörte nun in Valka auf einmal wieder das mir zu diesem Zeitpunkt viel vertrautere Lettisch. Die Kontrollposten waren noch recht provisorisch, aber schon jetzt war klar: Hier entsteht eine Grenze.
Im Herzen von Livland
Die Sprachen Estnisch und Lettisch haben keinerlei historische Verwandtschaft aufzuweisen, aber jahrhundertelang bildeten der Südteil des heutigen Estland und ein nördlicher Teil des heutigen Lettland die historische Region Livland, in der auch die Stadt Walk lag. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die neue Staatsgrenze zwischen Estland und Lettland entlang der Sprachgrenze gezogen, aber auf Walk erhoben beide neuen Staaten Anspruch. Eine Schiedskommission beschloss daher eine Aufteilung der Stadt, und so entstanden Valga in Estland und Valka in Lettland. Schon rund zwanzig Jahre später fanden sich beide Stadthälften in der Sowjetunion wieder, und die Grenze spielte von da an jahrzehntelang so gut wie keine Rolle. Das änderte sich 1991 bei der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands. Zwar wollte niemand eine Kleinausgabe von Berlin mit Mauer und Stacheldraht, aber klar war auch: Es würde künftig Formalitäten und keinen ungehinderten Übertritt mehr geben.
Die erneut geteilte Stadt
Bald gab es in der Stadt nur noch wenige und überwachte Grenzübergänge für Fußgänger, Pkw mussten die Grenze außerhalb des Zentrums überqueren. Es gab Pass- und Zollkontrollen und allerlei unpraktische Situationen. In einer Straße lagen die Häuser auf lettischem Territorium, die Straße selbst gehörte jedoch zu Estland. Anderswo verlief die Grenze quer durch Gemüsegärten und manchmal sogar mitten durch Garagen und Schuppen, die Anwohner während der Sowjetzeit auf ihren Grundstücken gebaut hatten. Besucher aus Deutschland mussten bis zur EU-Erweiterung 2004 ihren Pass vorzeigen, danach reichte der Personalausweis. Kontrolliert wurde aber weiterhin – bis zur Erweiterung des Schengenraums im Dezember 2007.
Schengenraum als Durchbruch
Innerhalb des Schengenraums dürfen Grenzen an jedem Ort und zu jeder Zeit ohne Personenkontrollen überquert werden. Somit fielen zwischen Valga und Valka alle Zäune und hoben sich die Schlagbäume, die Kontrollgebäude wurden abgerissen. Der Grenzverlauf wird heute lediglich durch Pfähle und Schilder markiert. 2011 führte Estland den Euro ein, Lettland folgte 2014 – ein weiterer Durchbruch für den Alltag. Trotzdem gelten auf beiden Seiten der Grenze weiterhin unterschiedliche Vorschriften und Steuersätze, was findige Anwohner stets zu nutzen wussten. Bierdosen und -flaschen aus lettischen Supermärkten wurden bevorzugt auf der estnischen Seite zurückgegeben, wo es ein höheres Flaschenpfand gab. Auch sonst wird jeder Cent Preisunterschied ausgenutzt. Ein abendliches Verkaufsverbot für Alkohol in Estland lässt sich durch einen Gang über die Grenze nach Lettland spielend leicht aushebeln. Wegen der unterschiedlichen Sprachen sind sich Esten und Letten oft fremd, und in beiden Ländern konzentriert sich das Leben stark auf die Hauptstädte Tallinn und Riga. Das aber hat die abseits der Metropolen gelegenen Provinzstädtchen Valga und Valka zu einer Schicksalsgemeinschaft werden lassen, die nun umso schneller zusammenwächst.
Siehe hierzu auch:
• Estland und Lettland – die fremden Freunde
• Wechselnde Grenzerfahrungen
• Südostestland – zauberhaft und weitgehend unbekannt
• Die Liven – ein fast vergessenes Volk
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!