Estlands drittgrößte Stadt Narva liegt im äußersten Osten des Landes in Sichtweite von Russland – und bietet im wahrsten Sinne des Wortes spannende Grenzerfahrungen.
Bei einem längeren Praktikum in Estland in den neunziger Jahren wollten mir meine estnischen Freunde an einem Wochenende einen Winkel des Landes zeigen, den ich noch gar nicht kannte. Meine Wahl fiel spontan auf Narva, und in der Tat gilt bis heute: Wer Estland besucht, findet nur selten den Weg in den äußersten Nordosten des Landes. Die weit abseits der prosperierenden Hauptstadt Tallinn gelegene Region Ida-Virumaa ist nach wie vor durch den Abbau von Ölschiefer, Kraftwerke und Petrochemieanlagen geprägt, die Straße führt vorbei an Abraumhalden, und die Arbeitslosigkeit liegt über dem Landesdurchschnitt.
Estlands eigenes Ausland
Im Zweiten Weltkrieg wurde die barocke Altstadt von Narva fast vollständig zerstört, die alten Bewohner an einer Rückkehr gehindert. An ihrer Stelle kamen vor allem Zuwanderer aus Russland in die Stadt, die von da an wie auch das zum Greifen nahe auf der gegenüberliegenden Flussseite gelegene Iwangorod zur Sowjetunion gehörte. Die Zwillingsstädte lagen zwar in verschiedenen Sowjetrepubliken, aber im Alltag spielte die Grenze so gut wie keine Rolle. Das änderte sich schlagartig 1991 mit der Unabhängigkeit Estlands. Es wurden Kontrollen eingeführt, und die einzige Brücke über den Fluss mitten in der Stadt wurde zum wichtigsten Grenzübergang zwischen Tallinn und St. Petersburg. Die Infrastruktur war dafür allerdings in keiner Weise ausgelegt: Es kam zu kilometerlangen Lastwagenstaus quer durch die Stadt mit entsprechender Lärm- und Abgasbelastung, und durch den EU-Beitritt Estlands 2004 wurde die Brücke zum russischen Iwangorod auch noch zur EU-Außengrenze.
In der Tat bot Narva somit lange ein eher trostloses Bild, ein eigenartiges Sowjetrelikt auf estnischem Boden mit einer überwiegend russischsprachigen Bevölkerung. „Es ist hier für uns wie im Ausland“, sagen manche Esten bis heute. Immerhin: Ein paar Pluspunkte hat die Stadt immer bewahren können, und dazu gehören vor allem die einander direkt gegenüberliegenden beeindruckenden Festungen auf der estnischen und russischen Seite.
Für mich unvergesslich ist, wie ich für eine Radioreportage Zollmitarbeiterinnen bei ihrem Dienst begleitete und sie mir von ihrem Alltag erzählten. In einem der kontrollierten Autos saß eine Band auf der Rückreise von Russland nach Estland, und mit viel Vergnügen ließen sich die Musiker nicht nur interviewen, sondern schoben mir auch noch rasch ein paar ihrer CDs mit estnisch-russischen Texten durch das Fenster.
Und wie ist Narva heute?
Kein Zweifel: Narva hat sich gemacht. Vieles ist renoviert oder rekonstruiert worden, und vor allem bemüht man sich auf beiden Seiten um kreative und pragmatische Lösungen für den Alltag. Die Lkw warten längst auf Parkplätzen außerhalb der Stadt und rollen erst dann zur Zollabfertigung, wenn dort ein Platz frei ist. Damit gehört der Dauerstau an der Brücke der Vergangenheit an. Die Grenze quer durch die Stadt wird vor allem elektronisch überwacht und ist kein Eiserner Vorhang mit Mauern und Stacheldraht. Gerade das macht es umso spannender: An beiden Flussufern sitzen sich Angler in Rufweite gegenüber, und die Häuser auf russischer Seite wirken zum Greifen nah, auch wenn je nach politischer Großwetterlage gerade wieder einmal Welten dazwischen zu liegen scheinen.
Beeindruckende historische Bauten, eine streckenweise immer noch an die Sowjetunion erinnernde Atmosphäre mitten im Euro- und Schengenraum, Endpunkt der EU und gleichzeitig Brückenkopf nach Russland – alles das ist Narva. Und wer einfach nur entspannen will: Nur wenige Kilometer an der Mündung des Narva-Flusses ins Meer liegt Narva-Jõesuu mit alten Holzhäusern zwischen Kiefern und einem wunderbaren Sandstrand. Dort hat man die Wahl, ob man nach Norden über die offene See in Richtung Finnland blicken will – oder zum anderen Flussufer nach Russland.
Siehe hierzu auch:
• Valga und Valka: Wo Estland und Lettland zusammenwachsen
• Talsinki: Europas neue Metropolregion
• Wechselnde Grenzerfahrungen
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!