In den Zeiten der Reisebeschränkungen hat mich oft das Fernweh gepackt! Aber dafür hatte ich auch mehr Zeit, um alte Fotos zu sortieren und in Erinnerungen zu schwelgen, und eine ganz besondere Stellung nehmen dort bis heute meine Touren mit Zelt und Fahrrad nach Schweden ein.
Nach mehreren Fahrradtouren durch Deutschland und Mitteleuropa wurde mit 18 endlich mein großer Traum wahr: Schweden! Weitere Fahrten sollten später folgen, aber die erste ist mir doch ganz besonders in Erinnerung geblieben. Zum ersten Mal im Leben lernte ich diese überaus praktische schwedische Einrichtung kennen und schätzen: Das sogenannte „Allemannsrätt“, wonach man für eine Nacht fast überall wild zelten darf. Das schonte den Geldbeutel, denn das Preisgefälle war damals enorm, erst recht für uns Schüler mit schmalem Taschengeld.
Der Ruf der Wildnis
Der Weg durch Schleswig-Holstein und Dänemark führte noch über bequeme Straßen und durch relativ dicht besiedelte Gegenden, und so war es auch in Schwedens südlichster Region Skåne. Dann aber begann Småland und damit die ersehnte Wildnis mit ihren endlosen Wäldern und unzähligen Seen. Freilich stieg damit auch die Zahl der Bewährungsproben. Schotterwege führten durch abgelegene Gebiete und ließen die Zahl der Reifenpannen in die Höhe schnellen. Wie gut, dass wir geübte Schlauchwechsler waren und ausreichend Flickzeug dabei hatten! Ein Laden am Wegesrand? Niemand konnte wissen, ob es an diesem Tag noch einen geben würde, ganz zu schweigen von Trinkwasser. Also hieß es, den großen Schlauch rechtzeitig zu füllen (und beim Klopfen an Häusern war es durchaus praktisch, dass ich vorher Schwedisch gelernt hatte). Und natürlich kostete es Übung, geeignete Zeltplätze zu finden, ohne allzu großes Gefälle oder unbequeme Wurzeln.
Wochenlang leben im Freien – und in Freiheit
Natürlich galt es auch zu improvisieren: Ein abendlicher Starkregen? Dann musste eben unter dem Vorzelt gekocht werden. Spaghettikochen mit Trinkwasser? Eigentlich zu schade, erst recht, wenn ein See in Reichweite liegt. Der ersetzte dann auch die morgendliche Dusche. Einen gewaltigen Pluspunkt gab es aber: In Deutschland mussten wir an heißen Wochenenden noch den ganzen Proviant zerfließen sehen, von Trockenfutter leben oder teuer essen gehen, denn unerbittlich schloss auch der letzte Laden Samstagmittag. In Schweden hieß das Zauberwort an den Supermärkten dagegen: Öppet alla dagar – täglich geöffnet. Praktisch war natürlich auch, dass es nachts nie stockdunkel war – beim Zelten ein echter Luxus.
Kaum zu vergleichen mit Deutschland waren damals auch die schwedischen „Jugendherbergen“, genannt Vandrarhem. Statt Schlafsaal mit Doppelstockbetten, Spind auf dem Flur und strenger Bettruhe gab es kleine gemütliche Zimmer und Küchen, wo jeder selbst hinter sich sauber machte, getreu dem Motto: „Din mamma städar inte här“ (deine Mutter putzt hier nicht). Ein Höhepunkt war die Fahrt über die Brücke über den Kalmarsund nach Öland per Rad, und im Wald stolperte man nicht nur über Runensteine, sondern konnte auch Elchen begegnen. Schweden kann man sich auf unterschiedliche Weise nähern – aber mit dem Fahrrad war es doch etwas ganz Besonderes, denn schließlich war bis auf die Fährüberfahrten jeder einzelne Kilometer mit eigener Muskelkraft erstrampelt.
Das lockende Abenteuer
Natürlich ist die Natur geblieben, und doch hat sich seither in Schweden so manches verändert. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir außerdem die ungeheure Selbstständigkeit, die wir mit unseren 18 Jahren an den Tag legten. Zwischen zwei Ortschaften konnten 20 Kilometer oder mehr liegen, und es gab keine Handys und keine EC-Automaten. Vielleicht machte auch genau das den Reiz aus: Man musste eben nicht erst bis Nepal oder Guatemala fahren, um in eine andere eigene Welt einzutauchen, sondern konnte sie sich selbst und aus eigener Kraft erschließen.
Siehe hierzu auch:
• Schwedisch: wirklich alles wie im Deutschen?
• Schweden und sein steinernes Erbe
• Mir fehlt ein Wort!
• Schwedisch lernen mit Maj Sjöwall und Per Wahlöö
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!