Ein gutes Wörterbuch ist weit mehr als eine reine Wörterliste. Doch welchen Ansprüchen muss es im Einzelnen gerecht werden?

Von Dr. Berthold Forssman

In einem Sprachkurs beklagte sich einmal eine Schülerin bei mir über das Vokabellernen. „Am besten gefällt es mir, wenn links und rechts jeweils nur ein einziges Wort steht und sonst gar nichts“, meinte sie. Aber stattdessen fand sie im Vokabelverzeichnis des Lehrbuchs in der linken Spalte bei den Wörtern in der Fremdsprache allerlei Zusätze, und in der rechten Spalte mit den deutschen Bedeutungen standen immer wieder mehrere Wörter.

Forssman Übersetzer Grundwortschatz Estnisch Deutsch
Forssman Übersetzer Lettische Grammatik

Fremd- und Muttersprache

Wenn man von anspruchsvollen Profis und einigen Ausnahmen einmal absieht, haben wir in der Regel eine Muttersprache (selten zwei oder auch mehr) und brauchen ein Wörterbuch (ob nun als Buch oder in elektronischer Form) als Hilfsmittel für die Fremdsprache, die wir gerade lernen oder noch nicht perfekt beherrschen. Ich betrachte es einmal aus meiner Perspektive als deutscher Muttersprachler. Das Wort „Hahn“ ist für uns ein klarer Fall: Wir wissen automatisch, wie man es ausspricht, dass es den Artikel „der“ hat, also ein Maskulinum ist, und dass es den Genitiv „des Hahn(e)s“ und den Plural „die Hähne“ (mit Umlaut) hat. Diese Angaben brauchen wir also gar nicht erst. Wer dagegen Deutsch lernt, braucht nach Möglichkeit den vollständigen Eintrag „Hahn, der; -(e)s, *-e“. Ein estnischer Muttersprachler kennt dagegen die Formen zu kukk „Hahn“, während wir Hinweise zur Deklination und beispielsweise zur Wortart, zu Besonderheiten der Aussprache oder zur Betonung benötigen.

Nicht einfach umdrehen

Esten und Deutsche haben also ganz unterschiedliche Anforderungen an ein „Wörterbuch Estnisch-Deutsch“ oder an ein „Wörterbuch Deutsch-Estnisch“, und deshalb ist es überaus wichtig, für welche Muttersprachler ein solches Wörterbuch konzipiert ist. So richtet sich ein in Estland erworbenes Wörterbuch Estnisch-Deutsch an Esten, die Deutsch lernen wollen. Steht dort in der linken Spalte „päev“, fehlen uns die grammatischen Angaben, ohne die wir keine korrekten Formen bilden oder identifizieren können. Rechts stehen dafür bei „Tag“ Angaben, die wir nicht benötigen, also Tag, der; -(e)s, -e. Das Verb „proovima“ steht ebenfalls links ohne Formen, bei versúchen in der rechten Spalte ist dagegen die Betonung angegeben, und es steht außerdem dort, dass es ein schwaches und transitives Verb ist. Und um beim „Hahn“ zu bleiben: Ist in der rechten Spalte verständlich gekennzeichnet, ob es sich um das Tier oder einen Wasserhahn handelt? Als ich mein Wörterbuch Estnisch-Deutsch schrieb, wurde ich oft erstaunt gefragt: „Gibt es so etwas denn noch nicht?“. Meine Antwort lautete dann: „sowohl als auch“: Es gibt allerlei Wörterbücher Fremdsprache > Deutsch, nur eben nicht speziell für deutsche Muttersprachler und deren Fragestellungen. Wirklich verwendbar sind sie nur, wenn man entweder schon sehr weit fortgeschritten ist, oder man muss auf zusätzliche Hilfsmittel wie einsprachige und grammatische Wörterbücher zurückgreifen. Aber genau das setzt bereits viel Wissen voraus.

Forssman Übersetzer Bücherregal
Forssman Übersetzer Wörterbuch Estnisch Deutsch

Keine statische Größe

Ein Dauerproblem sind Wörter, die es in der anderen Sprache gar nicht gibt. Auch benötigt ein deutscher Muttersprachler wohl kaum als Übersetzung von lettisch „pavasaris“ neben der Bedeutung „Frühling“ auch noch „Lenz“. Ein Lette dürfte „Lenz“ dagegen häufiger nachschlagen als „Frühling“. Als besonders problematisch erweisen sich jedoch veraltete Bedeutungen in Wörterbüchern, die von einer Auflage zur nächsten weitergeschleppt werden, weil sie nie korrigiert oder aktualisiert wurden. Wörterbücher und natürlich auch alle Datenbanken sind also keine statische Größe, sondern müss(t)en laufend überarbeitet werden. Was heute als technologischer Erfolg gefeiert wird, kann also morgen schon zum Problem werden. Aber darüber lasse ich mich ein andermal aus!

Siehe hierzu auch:
Wie schreibt man ein Wörterbuch – und warum?
Isländisch und seine tierischen Redensarten
Internationalismen: Wie universell sind sie wirklich?
Ein Plädoyer für lateinische Grammatikbegriffe!

Berthold Forssman

Über den Autor

Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!