Estland, Lettland und Litauen genießen heute eine zunehmend höhere Wertschätzung, gelten als entwickelte Staaten, verlässliche Partner und spannendes Reiseziel. Aber warum gönnt man ihnen dann nicht, auch unter ihrem eigenen Namen aufzutreten?
Mein Slogan lautet „Baltikum aus einer Hand“. Gleichzeitig kritisiere ich aber regelmäßig die häufige Verwendung des Sammelbegriffs „baltische Staaten“ für Estland, Lettland und Litauen. Wie passt das zusammen? Tatsächlich betrachte ich diese drei Länder als eigenständige Nationen mit einer eigenen Sprache, Geschichte und Kultur und spreche nach Möglichkeit nur dann vom Baltikum, wenn wirklich alle drei Länder gemeint sind – und das ist seltener der Fall als oft gedacht.
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Eine Radionachricht: Neun weitere Staaten sind Teil des Schengenraums geworden. Dabei handelt es sich um die im Jahr 2004 beigetretenen EU-Mitglieder Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und die drei baltischen Staaten.
Sechs Länder werden hier einzeln aufgezählt, darunter das kleine Malta, aber Estland, Lettland und Litauen werden beiläufig und wie selbstverständlich zusammengefasst. Warum eigentlich? Es wären kaum mehr Zeichen oder Sprechersekunden nötig gewesen, sie einzeln zu nennen.
Ein weiteres Beispiel: Die Europäische Union lehnt Verhandlungen mit Belarus über die Situation an der Grenze zu Polen und den baltischen Staaten ab.
Der kleine Schönheitsfehler hier ist vor allem, dass Estland gar nicht an Belarus grenzt. Es geht also nur um die Grenze zu Litauen und Lettland.
Und noch ein Interview mit einem Journalisten, der den deutschen Bundeskanzler nach Lettland begleitet hat: Herr Kollege, Sie kommen gerade aus Riga zurück. Wie ist die Stimmung in den baltischen Staaten?
Die wird der Kollege in diesen wenigen Stunden kaum alle bereist haben. Und was er in Lettland erlebt hat, kann zwar auch auf Estland und Litauen zutreffen, muss es aber nicht.
Woher diese Unsitte stammt, lässt sich rückblickend nicht mehr genau sagen. Aber inzwischen werden die Begriffe „Baltikum“, „baltische Staaten“ (oder – noch schlimmer – „ehemalige Sowjetrepubliken“) so oft voneinander abgeschrieben, dass sie als richtig empfunden werden. Dahinter mag einst die gute Absicht gestanden haben, Lesern und Zuhörern die europäische Landkarte näherzubringen. Dann könnte man freilich auch Spanien und Portugal so lange als „iberische Länder“ bezeichnen, bis sie auch wirklich jeder miteinander verwechselt und es nicht mehr als Bildungslücke gilt, Lissabon als spanische Hauptstadt zu bezeichnen oder zu fragen: „Welches von den Ländern da war das doch gleich? Das links oder das rechts?“ Und wie sehr freut man sich in Rumänien über den einst als Kampfbegriff im Kalten Krieg verwendeten Beinamen „Ostblockland“, welche Begeisterung mag die Bezeichnung „ehemalige Sowjetrepublik“ in der Ukraine auslösen? So wird kein Beitrag zur allgemeinen Information geleistet, sondern es werden unpassende Stereotype zementiert, die sogar einen falschen Umkehrschluss bewirken können. „Wieso ist das in Lettland anders als in Estland? Das sind doch baltische Staaten“, lautet dann die erstaunte Frage. Oder auch: „Ich verstehe gar nicht, warum die sich voneinander abgrenzen, statt sich endlich zusammenzuschließen.“
Recherche lohnt sich
Die Begriffe „baltische Staaten“ und „baltische Sprachen“ waren und sind unterschiedlich belegt (siehe dazu auch den Beitrag Baltisch – was genau ist damit gemeint?). Die Länder haben nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch ihren eigenen Alltag, und nicht jedes Ereignis in einem der Länder betrifft deshalb automatisch auch die anderen. So leben in Estland und Lettland viele ethnische Russen, nicht aber in Litauen. Lesen wir jedoch Ein estnisches Schulgesetz zur Verwendung des Estnischen im Unterricht hat für Proteste aus Russland gesorgt. In den baltischen Staaten lebt eine große russische Minderheit könnte der Eindruck entstehen, damit sei auch Litauen gemeint.
Immer mehr Lkw auf deutschen Straßen kommen aus Polen und dem Baltikum. Lkw mit litauischem Kennzeichen sehe ich tatsächlich recht oft, manchmal auch mit lettischem. Aber aus Estland?
Großbritannien hat mit der Verstärkung der Nato-Einheiten in Estland begonnen. London entsendet 850 zusätzliche Soldaten ins Baltikum und verdoppelt damit das britische Kontingent. Also auch nach Lettland und Litauen? Oder doch nur nach Estland? Der zweite Satz ist also entweder irreführend oder überflüssig. Warum nicht: Großbritannien verstärkt die Nato-Einheiten in Estland um 850 zusätzliche Soldaten und verdoppelt damit sein Kontingent?
Am 1. Januar 2015 hat Litauen als dritter baltischer Staat den Euro eingeführt. Das ist richtig, aber die Voraussetzung dafür war die Erfüllung der Konvergenzkriterien in Litauen und auch nur dort. Estland, Lettland und Litauen bilden keinen Staatenbund nach dem Vorbild der Benelux-Länder und haben oft genug divergierende Interessen. Da eine gegenseitige Verständigung nicht möglich ist, fehlt eine gemeinsame Debatte. Wenn der lettische Premierminister etwas sagt, spricht er nur für sich oder sein Land – auch wenn der litauische Präsident zufällig derselben Meinung ist.
Gegen die reflexartig verwendete Sammelbezeichnung „baltische Staaten“ für Estland, Lettland und Litauen gibt es also eine ganze Reihe Argumente. Der Begriff ist historisch, sprachlich, geografisch und kulturell nicht klar definiert, er führt zu einer ständigen Verwechslung der Länder und zu unzulässigen Verallgemeinerungen, und somit ist er in vielen Fällen irreführend, platzfressend und für deutsche Hörer und Leser keineswegs hilfreich. Es ist weder verboten noch politisch unkorrekt, Estland, Lettland und Litauen zusammen als „Baltikum“ zu bezeichnen. Aber sie selbst betrachten sich nicht primär als „baltische Staaten“, sondern einfach als Estland, Lettland und Litauen, ohne Beiwort und fertig. Wie Polen, Ungarn oder Spanien auch. Warum soll man ihnen das nicht einfach gönnen?
Siehe hierzu auch:
• Baltisch – was genau ist damit gemeint?
• Litauen: Europas vergessene Großmacht
• Estland und Lettland – die fremden Freunde
• Talsinki – Europas neue Metropolregion
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!