Politische Grenzen üben auf mich eine seltsame Faszination aus – auch und gerade, wenn sie im Lauf der Zeit ihren Charakter ändern.
Ob mein Interesse an Grenzen von Kindheitserinnerungen an das geteilte Berlin oder an die innerdeutsche Grenze herrührt? Oder daran, dass die Grenzen zwischen West- und Osteuropa (zumindest in eine Richtung) hermetisch abgeriegelt waren, während sie in Westeuropa zwischen den Unterzeichnern des Schengener Abkommens immer mehr an Bedeutung verloren? Auf jeden Fall haben politische Grenzen die seltsame Eigenschaft, dass sie künstlich und allein von Menschen gemacht sind, während sie der Natur vollkommen gleichgültig sind: Fauna und Flora kümmern sich ebenso wenig um sie wie Wind und Wetter. Für den Menschen kann sich dagegen mit einem Schritt fast alles ändern, von der Sprache und der Kultur über die Währung bis zur Gesetzgebung und dem politischen System. Von einem Tag auf den anderen können gewachsene Strukturen auseinandergerissen werden, während die Vögel weiterhin unbekümmert von einer Seite auf die andere fliegen.
Sichtbar versus unsichtbar
Stark gesicherte Grenzen lassen erschauern, denn sie haben etwas Verbotenes oder gar Lebensgefährliches. Trotzdem kann es mancherorts passieren, dass man auf der anderen Seite in geringer Entfernung Häuser und Menschen sieht, die so nah und doch so fern sind. Werden Grenzen abgebaut, mag – wie im Schengen-Raum – das Überqueren an jedem Ort zur jeder Tages- und Nachtzeit erlaubt sein, und trotzdem betrete ich dann einen anderen Staat. Wenn die Staatsgrenze zwischen zwei Gärten verläuft, muss ich für eine Postsendung an meinen Nachbarn womöglich ein Vielfaches des Portos zahlen, das für eine Sendung zum anderen Ende der (eigenen) Republik anfällt. Gibt es keine Zollgrenze, kann ich das Paket einfach über den Zaun reichen – andernfalls mache ich mich womöglich sogar strafbar.
Als Estland, Lettland und Litauen wieder unabhängige Staaten wurden, war es auch mit dem freien Grenzübertritt vorbei. Zwar wollte niemand zwischen diesen Ländern Mauer und Stacheldraht, aber es galten nun einmal eigene Bestimmungen, es gab eigene Währungen, und nicht zuletzt forderte die EU als Bedingung für eine Annäherung eine Sicherung der Staatsgrenzen. Die Grenzen zu Russland und Belarus wurden in den neunziger Jahren jedoch definitiv immer stärker gesichert, und die Wege endeten von da an endgültig im Nichts. Zwischen Estland, Lettland und Litauen blieben sie in dieser Zeit deutlich markiert, ein Übertritt außerhalb der Grenzübergänge war verboten. Eine strenge Bewachung war dabei gar nicht einmal nötig: Wer sich tatsächlich zu Fuß durch den Wald kämpfte, konnte auch im nächsten Dorf kontrolliert werden und musste dort eine Strafe zahlen. Besonders unerfreulich war diese Zeit allerdings für die zwischen Estland und Lettland geteilte Stadt Valga/Valka. Beim Blick vom estnischen Narva zur russischen Zwillingsstadt Iwangorod erlebte ich einen ähnlichen Schauer wie einst an der Berliner Mauer, ebenso beim Blick über die Königin-Luise-Brücke von Litauen direkt auf die Wohngebäude in der russischen Exklave Kaliningrad!
Nur ein einziger Schritt
Mit dem EU-Beitritt am 1. Mai 2004 entfielen die Zoll-, aber erst einmal nicht die Personenkontrollen, und weiterhin mussten Grenzübergänge genutzt werden. Was für eine Erlösung brachte da der Beitritt zum Schengenraum! Auf einmal konnte ich durch litauische Wälder laufen und merkte erst am Piepen des Handys, dass ich die Grenze zu Lettland überquert hatte. Ab dem Beitritt zur Eurozone (Estland 2011, Lettland 2014 und Litauen 2015) wurde vieles noch einfacher, und das Ende der Roaming-Gebühren macht seither die Kommunikation erheblich einfacher und billiger. Und doch: Ein einziger Schritt im Wald bedeutet dort bis heute, dass auf der anderen Seite eine andere Telefonvorwahl gilt, unterschiedliche Gesetze gelten – und eine völlig andere Sprache gesprochen wird.
Siehe hierzu auch:
• Talsinki – Europas neue Metropolregion
• Valga und Valka: Wo Estland und Lettland zusammenwachsen
• Narva: EU-Außenposten oder Brückenkopf nach Russland?
• Berlin-Tallinn per Zug – wann geht das endlich wieder?
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!