Finnisch gilt oft als besonders schwierige Sprache. Das eng verwandte Estnische hat sich in vielen Punkten stärker weiterentwickelt. Aber ist es deshalb leichter zu erlernen?
Als ich anfing, Finnisch zu lernen, betrat ich eine mir unbekannte Welt: eine Sprache, die keinerlei Verwandtschaft mit dem Deutschen oder anderen indogermanischen Sprachen hat, fremd wie Türkisch, Arabisch oder fernöstliche Sprachen. Neben dem Wortschatz betraf das vor allem die grammatischen Strukturen. Dazu gehörten die vielen Kasus, aber auch andere Eigenheiten: Zahlwörter stehen mit dem Singular statt mit dem Plural, in negierten Sätzen gibt es eine eigene Verbform, für eine unbestimmte Menge oder für das Objekt in negierten Sätzen gibt es mit dem Partitiv einen eigenen Kasus, und statt „ich habe etwas“ gibt es eine Konstruktion nach dem Muster „auf mir drauf ist etwas“.
Der Satz „Ich habe keine Bücher“ wäre dann übertragen im Finnischen etwas wie „[Auf mir drauf] [nicht+Endung-sein] [Teilmenge-von-Büchern]“.
Aber ist das unbedingt schwierig? Dahinter stehen oft klare Regeln und Strukturen, auch wenn es eine Weile braucht, bis man sie beherrscht – und immer wieder fand ich Finnisch auf einmal erstaunlich logisch.
Was ist einfacher – Estnisch oder Finnisch?
Nach der Wende kam ich dann auch das erste Mal mit dem Estnischen in Berührung, und ich wusste, dass es eng mit dem Finnischen verwandt und die jüngere, weiterentwickelte Sprachstufe ist. Gemäß der allgemeinen Meinung hätte es demnach leichter sein müssen, aber merkwürdigerweise ergab sich für mich anfangs das gegenteilige Bild.
Natürlich war Finnisch eine enorme Hilfe. Viele Wörter kannte ich bereits, allerdings hatten ihre Bedeutungen oft eine andere Nuance. Auch in der Grammatik kam mir vieles bekannt vor. Aber wo die Muster im Finnischen noch klar zu erkennen waren, ergab sich im Estnischen ein buntes, fast schon chaotisches Bild. Noch wichtiger (und schwieriger!) als beim Finnischen war es beispielsweise, zu jedem Substantiv auch den Genitiv und den Partitiv Singular und Plural dazuzulernen. Aber in den Wörter- und Lehrbüchern, die damals zur Verfügung standen, waren diese Formen nicht vollständig oder gar nicht angegeben.
Bei einem Sprachkurs in Estland bat ich meine Lehrerin, mir bei der Ergänzung der Formen zu helfen. Aber wir brauchten dafür die gesamte Kaffeepause, und dann ging der Unterricht auch schon weiter. Also empfahl mir die freundliche Frau, ein Sprachrichtigkeitswörterbuch zu kaufen, ein „Õigekeelsussõnaraamat“ (das Wort musste ich lange üben!). Damit konnte ich die Vokabeln aus dem Wörterbuch ergänzen, aber das war eine mühsame Zusatzarbeit.
Alle anderen Kursteilnehmer kamen aus Finnland, und sie taten sich oft leichter als ich. Ein paar Vorteile hatte ich jedoch: bei deutschen Lehnwörtern und bei Konstruktionen, die das Estnische aus dem Deutschen übernommen hatte. Diese erkannte ich aber oft nur durch Zufall wieder, weil sie von meinen Lehrbüchern nur ungenügend erklärt wurden. Da war das Problem aber vielmehr das fehlende Material oder die fehlende Ausrichtung an einem deutschen Zielpublikum.
Lernen um die Ecke
Mit viel Mühe eignete ich mir das Estnische an, und dann kam der Zeitpunkt, wo ich es selbst an der Universität unterrichten sollte. Um meinen Studenten den Start zu erleichtern, empfahl ich ihnen, erst einen Finnischkurs zu besuchen. Aber später bekam ich Unterrichtsaufträge, wo das nicht mehr ging. Also griff ich zu einem Trick: Ich erklärte erst zumindest kurz die Phänomene des Finnischen und die Weiterentwicklung im Estnischen, also genau das, was ich mir selbst mühsam zusammengereimt hatte – und tatsächlich: Damit ging es viel besser.
Letztlich glaube ich nicht, dass es wirklich „einfache“ oder „schwierige“ Sprachen gibt (darüber lasse ich mich gerne ein andermal aus). Lieber sage ich: Schwierig sind oft die Umstände, unter denen wir eine Sprache lernen müssen. Je kleiner eine Sprache ist und je seltener sie gelernt wird, desto weniger Material gibt es oft und desto weniger ist es auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichtet.
Immerhin: Am Ende war meine Vokabelsammlung so umfangreich, dass ein ganzes „Wörterbuch Estnisch-Deutsch“ herauskam, und meine Unterrichtserfahrungen mündeten in das Lehrbuch „Tervist! Estnisch für Deutschsprachige“. Und besonders freute ich mich, als ein Schüler im Unterricht einmal spontan sagte: „Meine Güte, ist das eine einfache Sprache“. Natürlich hatte er vorher oft genug gestöhnt oder auch nur über die unmöglichen Formen gelacht. Aber in dem Augenblick dachte ich: Ja, so kann man es auch sehen.
Siehe hierzu auch:
• Baltisch – was genau ist damit gemeint?
• Wie schreibt man ein Wörterbuch – und warum?
• Südostestland – zauberhaft und weitgehend unbekannt
• Was macht ein Wörterbuch aus?
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!