Der Tourismus in Estland konzentriert sich nach wie vor auf die Hauptstadt Tallinn, die Küste und die Inseln. Das ist eigentlich schade, denn auch der Südosten des Landes hat eine Menge zu bieten.
Estland ist inzwischen kein „exotisches“ Reiseziel mehr, erst recht nicht für Finnen oder Schweden. Auch finden mittlerweile immer mehr Reisende aus Mitteleuropa ihren Weg nach Nordosten. Allerdings werden die Hauptstadt Tallinn, die Küste sowie die Ostseeinseln Saaremaa und Hiiumaa viel häufiger aufgesucht als beispielsweise der äußerste Nordosten des Landes in Richtung Narva. Außerdem hat auch und gerade Südostestland jede Menge zu bieten!
Wälder und Seen
In der Nähe des Dreiländerecks zu Russland und Lettland erhebt sich der Suur Munamägi, mit 318 Metern nicht nur der höchste Berg des Landes sondern im ganzen Baltikum. Von dem Aussichtsturm hat man einen wunderbaren Blick über endlose Wälder und Seen. Überhaupt ist die ganze Gegend entlang der Grenze zu Russland wild, unberührt und so gut wie unbewohnt – selbst Bären leben hier. Estlands Wintersportort Otepää ist inzwischen unter Interessierten ein Begriff, und in der Umgebung locken viele Seen. Wer hätte übrigens gewusst, dass der Peipussee entlang der Grenze zu Russland sieben Mal so groß wie der Bodensee und der fünftgrößte See Europas ist?
Auch niedliche Städtchen hat die Region zu bieten. Võru liegt am gleichnamigen See und wird von vielen Esten mit Friedrich Reinhold Kreutzwald (1803-1882) in Verbindung gebracht. Er praktizierte viele Jahre in Võru als Arzt und schuf dort den Kalevipoeg, der als estnisches Nationalepos gilt, vergleichbar dem finnischen Kalevala. Ihm ist ein Museum gewidmet, und ich musste schmunzeln, als mich die Führerin auf die Sauna aufmerksam machte – die darf in einem traditionellen estnischen Haus natürlich nicht fehlen. Übrigens ist der in der Region gesprochene Dialekt „Võro“ für die meisten Esten nur schwer verständlich, und deshalb ist immer wieder sogar von einer eigenständigen finnisch-ugrischen Sprache die Rede.
Tartu: die stolze Universitätsstadt
In nur wenigen Flächenstaaten konzentrieren sich so viele Bewohner auf die Hauptstadt wie in Estland. Tartu als zweitgrößte Stadt des Landes tritt dafür umso selbstbewusster als traditionsreiche Universitätsstadt und wichtiger Wissenschafts- und Kulturstandort auf. Es fehlt dort weder an Sehenswürdigkeiten noch an Kneipen und lauschigen Flecken am Fluss Emajõgi. Kein Zweifel: Tartu (auf Deutsch manchmal auch Dorpat genannt) ist damit nicht nur ein interessantes Reiseziel, sondern auch ein wunderbar geeigneter Ausgangspunkt für Streifzüge durch Südostestland.
Siehe dazu auch folgende Beiträge:
• Wie schwierig ist Estnisch?
• Valga und Valka: Wo Estland und Lettland zusammenwachsen
• Narva: EU-Außenposten oder Brückenkopf nach Russland?
• Wechselnde Grenzerfahrungen
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer und Prüfer und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!