Ein Arbeits- oder Ferienbesuch in Lettlands Hauptstadt Riga ist für mich bis heute unvorstellbar ohne regelmäßige Spaziergänge am Strand von Jūrmala. Aber dieser wunderschöne Ort hat schon diverse Höhen und Tiefen erlebt und bietet auch heute noch spannende Kontraste.
Auf einer lang gestreckten Halbinsel vor der Mündung des Flusses Lielupe in die Ostsee liegt Jūrmala, ein beliebter Urlaubsort für Touristen, ein Ausflugsziel für die Rigaer und inzwischen auch eine der teuersten Wohngegenden in ganz Lettland. Vom Rigaer Hauptbahnhof fahren mehrmals stündlich Züge und erreichen nach nur rund 20 Minuten Fahrt die erste Station an der Ostsee. Ab da liegen die Seebäder aufgereiht wie an einer Perlenkette. Von jedem der Bahnhöfe ist der Strand in wenigen Minuten zu Fuß erreichbar, und der Weg führt zunächst vorbei an schmucken Holzhäuschen und Hotels und dann durch bewaldete Dünen. Der Sand ist so fein wie Mehl, und selbst zur Hochsaison ist es hier nicht überlaufen. Wem es trotzdem zu voll ist – irgendwann findet sich immer auch ein ruhigeres Plätzchen.
Jūrmalas Aufstieg als Badeort
Bei einer Reportagereise für den Rundfunk hatte ich die Gelegenheit, eine Mitarbeiterin des Stadtmuseums zu interviewen. Sie erzählte so plastisch und humorvoll von der Geschichte Jūrmalas, dass es eine wahre Freude war. Als Ende des 18. Jahrhunderts in Europa das Baden im Meer in Mode kam, machten sich auch erste mutige Gäste auf den beschwerlichen Weg zum Strand vor Riga und mieteten sich bei den Fischern ein. Diese reagierten auf die steigenden Ansprüche ihrer Besucher, indem sie ihre schlichten Holzhäuser zunächst um Glasveranden erweiterten und dann immer größere Häuser errichteten. Nach dem Bau der Eisenbahnlinie kamen immer vornehmere Gäste, für die schließlich Hotels, Kurhäuser und Kultureinrichtungen gebaut wurden, um auch für eine standesgemäße Unterhaltung zu sorgen. Für das aufstrebende Riga und seine immer wohlhabenderen Bürger wurde Jūrmala (das lettische Wort bedeutet eigentlich nur „Strand“) zum nahegelegenen Ausflugsziel und zur beliebten Sommerfrische.
In der Sowjetzeit wurden die Hotels und Sanatorien verstaatlicht, und der Massentourismus setzte ein. Urlaub in Jūrmala galt als Privileg. Wer keinen Platz in einem Hotel oder Gewerkschaftsheim ergatterte, machte sich einfach auf den Weg und suchte auf eigene Faust eine Unterkunft. Vermieten gegen Geld war zwar verboten, aber das hinderte die Einheimischen nicht daran, im Sommer zusammenzurücken und freie Zimmer oder selbst ihre Abstellkammern, Schuppen und Garagen zu vermieten. Gleichzeitig entstanden neue Betonhotels sowie Restaurants und Schnellgaststätten für die Massenverpflegung: Diese Bilderserie bietet Eindrücke aus den siebziger Jahren. Trotz der Biederkeit und Anspruchslosigkeit der klassenfreien Gesellschaft umwehte Jūrmala selbst damals noch ein Hauch von mondänem Leben, kamen Prominente und Stars, galt Riga den Gästen aus der übrigen Sowjetunion als so etwas wie eine Reise „in den Westen“.
Niedergang und Wiedergeburt
Die ungeklärten Abwässer eines Zellulosewerks an der Lielupe führte zu einer drastischen Verschlechterung der Wasserqualität in Jūrmala und schließlich sogar zu einem Badeverbot. Die alten Holzhäuser verfielen im Lauf der Zeit genauso wie die neueren Betonbauten. Nach der Unabhängigkeit Lettlands brauchten Gäste aus Russland ein Visum, außerdem wurde Urlaub in Jūrmala für sie unverhältnismäßig teuer. Touristen aus dem Westen fanden zunächst kaum ihren Weg nach Lettland. Bei meinen ersten Besuchen in Jūrmala war der Strand oft so gut wie menschenleer, viele der reizenden Holzhäuser waren verfallen, vielerorts bröckelte der Putz, waren Eingänge und Fenster verrammelt.
Inzwischen hat Riga längst eine Kläranlage, und es wird wieder fleißig gebadet. Es gibt neue Hotels in allen Preisklassen, zahlreiche alte Häuser wurden saniert, leider auch diverse geschmacklose Protzvillen errichtet. Dazwischen finden sich immer wieder alte Holzhäuser und sowjetische Relikte, an denen die Zeit vorbeigegangen ist. Aber es ist doch immer unverkennbar Jūrmala geblieben. Und was sich nie geändert hat und wohl auch nie ändern wird, sind die bewaldeten Dünen, der endlose feine Strand mit seinem feinen Sand, der salzige Wind und der Blick hinaus auf die Ostsee. Was für ein Privileg für eine Großstadt wie Riga, das ganze Jahr hindurch ein solches Ausflugsziel direkt vor der Haustür zu haben!
Siehe hierzu auch:
• Rigas Freilichtmuseum – auf den Spuren von Straumēni
• Riga – Perle des Jugendstils
• Lettland nach der Stunde Null
• Die Liven – ein fast vergessenes Volk
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!