Lettland ist heute kein wirklich exotisches Reiseziel mehr, erst recht nicht Riga, die Ostseeküste und einige weitere Höhepunkte. Doch wie sieht es in der Provinz abseits der bekannten Routen aus?
Bei meinem ersten Besuch in Lettland kurz nach der Unabhängigkeit war Spätwinter. Damals erkundete ich Riga und Umgebung, aber einmal nahmen mich meine Gastgeber auch mit aufs flache Land. Dort hatten sie ein riesiges Holzhaus direkt an der Daugava zurückbekommen, das freilich verwohnt und ohne den geringsten Komfort war. Der Fluss war zugefroren, und die Sonne stand schon tief, als wir auf das Eis hinausliefen, wo viele Fischer noch ein Abendbrot angeln wollten. Natürlich bekamen wir patschnasse Füße und mussten die Schuhe erst einmal am Holzofen trocknen, der inzwischen wenigstens brannte. Aber eindrücklich war es doch – wann überquert man schon einmal zu Fuß einen breiten Strom?
Es wird wärmer
Um Ostern herum ist der Schnee natürlich geschmolzen. Das alte Spukschloss wird gelüftet und gefegt, es wird tüchtig geheizt, und in der Küche ist es irgendwann mollig warm – allerdings auch nur dort. Die Schlafzimmer erreichen bis zum Ende des Wochenendes höchstens 12 Grad, was sich aber mit einer Vielzahl von Decken aushalten lässt. Auf dem Plumpsklo bleibt sowieso niemand länger, als es unbedingt nötig ist. Es ist also alles sehr „ursprünglich“, aber vor allem erlebe ich hier zum ersten Mal, wie Birken angezapft werden. Dazu wird ein Loch in den Stamm gebohrt und ein Plastikschlauch hineingeschoben, der in einen Kanister mündet. Dieser Birkensaft schmeckt unbeschreiblich – vor allem aber war er zu allen Zeiten eine wichtige Vitaminquelle nach dem langen Winter. In der Küche wird nicht nur gekocht, sondern auch gegessen – und natürlich viel geplaudert und gelacht, und fast ist es wie in dem Klassiker „Straumēni“ von Edvarts Virza! Gemeinschaft wird großgeschrieben – und wo hätte ich wohl besser und authentischer Lettisch lernen können als in einer solchen Umgebung?
Und dann ist endlich Sommer! Nun ist alles in üppiges Grün getaucht, die Häuser verschwinden fast in ihren Gärten. Natürlich hat die sogenannte „Ursprünglichkeit“ auch jetzt ihren Preis: Wasser muss mit Eimern aus dem Brunnen geholt und auf dem Herd erwärmt werden, wofür zuvor Holz gehackt werden muss. Die Milch kommt morgens frisch von einem der Nachbarn und schmeckt jedes Mal anders – je nach den individuellen Vorlieben der jeweiligen Kuh! Am Abend ist sie sauer, weil es keinen Kühlschrank gibt – aber dafür kann sie zusammen mit den gebratenen Pilzen gegessen werden, die man tagsüber gesammelt hat, oder, mit frischen Beeren verrührt, als Nachtisch. Um seine Freizeitgestaltung muss man sich zumindest keine Gedanken machen! Dreckig, müde? Der Fluss ist gleich vor der Tür, und richtig „gebadet“ wird sowieso am Samstagabend in der Pirts, der lettischen Variante der Sauna. Licht muss man kaum anzünden, schließlich ist es abends lange hell. Meine Oma hätte vermutlich nur gesagt: „Natürlich, so war es bei uns früher auch“, und ich kenne das alles aus ihren und anderen Schilderungen. Aber es ist doch etwas ganz anderes, einmal selbst wie zu Groß- oder Urgroßmutters Zeiten zu leben!
Sommer in Lettland – die Welt der Kinder
Die Kinder im Dorf werden kaum beaufsichtigt, und Spielzeug besitzen sie ebenfalls so gut wie keines. Plastik aus dem Westen ist Anfang der neunziger Jahre vor der Währungsreform sowieso mehr oder weniger unbekannt, kaum erhältlich und erst recht nicht erschwinglich. Aber umso fantasievoller sind ihre Spiele! Sie zeigen mir, von welchem Baum sich die besten Äpfel klauen lassen, stecken sich im Vorbeigehen Beeren in den Mund, streifen durch den Wald, schwimmen im Fluss oder planschen unbekümmert in einem der nahegelegenen Seen. Für mich ist dieser Sommer in Lettland geradezu paradiesisch, in ständiger Nähe zur Natur und in nahezu vollständiger Bedürfnislosigkeit. Aufgrund von Fahrradtouren mit dem Zelt ist mir ein (zumindest vorübergehender) Verzicht auf Komfort nicht fremd, aber es ist etwas ganz Besonderes zu erleben, dass für manche Menschen so der Alltag aussieht. Erstaunlicherweise sehnen sich manche von uns insgeheim eben doch manchmal nach dem, was wir vor 50 oder 100 Jahren hinter uns gelassen haben (oder wenigstens nach bestimmten Aspekten). Und die Letten selbst? Auch alle die, die längst Fernwärme und fließendes warmes Wasser zu Hause haben, tauchen bei einem Besuch auf dem Land mühelos wieder in dieses Leben ein, pflücken Beeren, sammeln Pilze – und zapfen Birken an.
Siehe auch die folgenden Beiträge:
• Leben mit der Sauna als Mittelpunkt
• Lettland nach der Stunde Null
• Auf Spurensuche in Riga
• Dreißig Jahre Estnisches Wirtschaftswunder
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Mehr vom und über den Autor erfahren Sie hier!