Die Wörter „Ostsee“ und „Finnisch“ sind bekannt, aber mit dem Begriff „Ostseefinnisch“ hat es seine ganz eigene Bewandtnis.
Bei Finnisch denken wir natürlich sofort an die im Nordosten Europas gelegene Republik Finnland. Das Finnische weist keinerlei Verwandtschaft mit indogermanischen Sprachen wie Schwedisch, Russisch oder den baltischen Sprachen Lettisch und Litauisch auf, hat aber mehrere enge Verwandte in der Region. Von diesen dürfte das Estnische noch am bekanntesten sein, ganz im Gegensatz zu Kleinstsprachen wie Wotisch, Wepsisch, Karelisch oder Livisch. Sie alle bilden gemeinsam die ostseefinnische Sprachgruppe, und zur besseren Abgrenzung nennt man das Finnische in der Sprachwissenschaft manchmal auch „Suomi-Finnisch“, denn die Finnen selbst nennen ihr Land „Suomi“.
Weitläufige Verwandtschaft
Geht man in der Sprachgeschichte noch weiter zurück, landet man bei der finnisch-ugrischen Sprachgruppe, deren Urheimat vermutlich in der Ural-Region oder Nordwestsibirien zu suchen ist. Von dort zogen einzelne Gruppen in unterschiedliche Richtungen, und eine von ihnen stieß bis zur Ostsee vor. Die nächsten Verwandten dieser Ostseefinnen sind die Samen, aber es gibt auch die sogenannten wolgafinnischen Sprachen wie Komi. Das Ostseefinnische, das Wolgafinnische und das Samische sind also allesamt Untergruppen der finnisch-ugrischen Sprachfamilie.
Erst im 9. Jahrhundert n. Chr. eroberten die Ungarn ihr heutiges Territorium in Mitteleuropa. Finnisch und Ungarisch, die Namensgeber der finnisch-ugrischen Sprachfamilie, sind also die am weitesten entfernten Außenposten. Seit mehreren tausend Jahren besteht keinerlei Kontakt mehr, weshalb nur Wissenschaftler mit sehr viel Mühe und Vorwissen die Sprachverwandtschaft erkennen können. Insofern stimmt es zwar, dass Finnisch und Ungarisch miteinander verwandt sind, aber es ist eine Wandersage, dass irgendeine Verständigung möglich wäre: Die Verwandtschaft ist ungefähr so eng wie zwischen Isländisch und Bengalisch.
Was sind die Besonderheiten des Ostseefinnischen?
Wer sich daran macht, Finnisch oder Estnisch zu lernen, wird auf eine ganze Reihe von Besonderheiten stoßen, die vor allem deshalb so auffällig sind, weil sie in den uns sonst eher geläufigen indogermanischen Sprachen fehlen. Dazu gehört neben einigen lautlichen Besonderheiten wie dem sogenannten Stufenwechsel und der Vokalharmonie zum Beispiel, dass es kein Genus gibt, also kein grammatisches Geschlecht. Oder vielleicht noch etwas einfacher ausgedrückt: Es gibt zwar Wörter wie „Mann“ und „Frau“ oder „Bruder“ und „Schwester“, aber keinen Unterschied zwischen „er“ und „sie. Finnisch „hän on kääntäjä“ kann also sowohl „er ist Übersetzer“ als auch „sie ist Übersetzerin“ bedeuten. Für den Ausdruck einer bestimmten Teilmenge wird der Kasus Partitiv verwendet, Zahlwörter ab 2 stehen nicht mit dem Plural wie bei uns, sondern mit dem Singular, und es gibt eigene Verneinungsverben. Das alles klingt jetzt allerdings deutlich komplizierter als es ist: Diese Sprachen folgen durchaus einer Logik, nur dass es eben eine andere ist als die, die wir gewöhnt sind.
Siehe hierzu auch:
• Warum eine bestimmte Sprache lernen?
• Finnisch und Estnisch – eine schwierige Beziehung
• Die sprachliche Situation in Lettland: alles andere als einfach
• Wie schreibt man ein Wörterbuch – und warum?
• Wie schwierig ist Estnisch?
• Sprachen ohne Genus – wie geht das?
• Leben mit der Sauna als Mittelpunkt
• Die Liven – ein fast vergessenes Volk
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!