Finnisch und Estnisch sind eng verwandte Sprachen. Trotzdem ist die gegenseitige Verständigung alles andere als einfach.
In der Sowjetunion hatten die Esten ein ganz besonders ungewöhnliches Privileg: Sie konnten finnisches Fernsehen und damit „Westfernsehen“ empfangen. Und was vielleicht noch viel wichtiger war: Sie konnten mit nicht allzu viel Anstrengung und reichlich Übung einigermaßen verstehen, worum es in den Sendungen ging. Schließlich sind Estnisch und Finnisch eng miteinander verwandte Sprachen, weshalb den Menschen vieles auf Anhieb bekannt vorkam und -kommt – und die Motivation war groß, einen Blick über den Eisernen Vorhang werfen zu können.
Einseitige Kommunikation
Natürlich war der Reiseverkehr eingeschränkt, aber zumindest für die Finnen war es durchaus möglich, mit der Fähre von Helsinki einen Abstecher nach Tallinn zu machen. Besonders bequem: Auf der anderen Seite des Finnischen Meerbusens wurden sie einigermaßen verstanden, was für sie vermutlich nirgendwo sonst auf der Welt so gut funktionierte. Übersehen wurde dabei allerdings, dass es vor allem die Esten waren, die Finnisch mehr oder weniger beherrschten, und nicht umgekehrt, und dass sie es zuvor durch das Fernsehen gelernt hatten und das Verständnis keine Selbstverständlichkeit war.
Missverständnisse vorprogrammiert
Längst brauchen die Esten kein finnisches Fernsehen mehr, um über das Weltgeschehen informiert zu sein, und ebenso wenig interessieren sie sich heute für finnische Werbung, um die westliche Warenwelt zu sehen. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen sind Waren und Dienstleistungen in Tallinn heute kaum billiger als in Helsinki. Die Folge ist, dass die Finnisch-Kenntnisse rapide nachgelassen haben, auch wenn Dienstleister wie große Hotels, Restaurants oder Geschäfte von ihren Angestellten Finnisch-Kenntnisse erwarten. Damit tritt nun offen zu Tage, was vorher geflissentlich übersehen wurde: Die beiden Sprachen haben jede Menge Unterschiede aufzuweisen.
Wie so oft bei verwandten Sprachen gibt es eine Vielzahl an „falschen Freunden“, also Wörter, die auf eine gemeinsame Vorform zurückgehen, aber unterschiedliche Bedeutungen entwickelt haben. Finnisch „halpa“ entspricht sprachhistorisch genau estnisch „halb“ – nur ist die Bedeutung im ersteren Fall „billig“, im zweiten Fall „schlecht“. Das ist eigentlich gar nicht so schwer nachzuvollziehen, wenn man an etwas wie „minderwertig“ denkt, aber es wird peinlich, wenn Finnen das billige Essen in Estland loben. Im Finnischen bedeutet „puhua“ sprechen, die estnische Entsprechung dagegen blasen wie „der Wind bläst“. In einem Roman, in dem sich Finnen und Esten um eine gemeinsame Kommunikation bemühen, sagt die Gastgeberin: „Jetzt bete ich die Fremden ans Brett“. Tatsächlich liegen bitten und beten, Fremde und Gäste und Tisch und Brett gar nicht so weit auseinander. Aber das Estnische hat auch viele deutsche Lehnwörter, die dem Finnischen fehlen, z.B. müts (Mütze), lärm (Lärm) oder klatš (Klatsch). Vor allem aber hat es teilweise ganze deutsche Satzkonstruktionen übernommen, die wörtlich übersetzt aus finnischer Perspektive überhaupt keinen Sinn ergeben, selbst wenn einem die einzelnen Wörter bekannt vorkommen. Mit viel Wohlwollen und vor allem etwas Übung kann eine Verständigung zwischen Finnen und Esten funktionieren – aber oft genug klappt es eben auch nicht und kommt es entweder zu erstaunten Blicken oder zu schallendem Gelächter.
Siehe hierzu auch:
• Wie schreibt man ein Wörterbuch – und warum?
• Dreißig Jahre Estnisches Wirtschaftswunder
• Hansedeutsch: die einstige Lingua franca im Ostseeraum
• Talsinki – Europas neue Metropolregion
• Wie schwierig ist Estnisch?
• Falsche Freunde – von lustig bis tückisch
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!