Die Orientierung im Raum ist eine wesentliche Erfahrung für jeden Menschen, und das gilt auch für die Zeit. Gleichzeitig ist Sprache unser täglichstes Gut. Warum sich also nicht auch wissenschaftlich mit solchen Themen auseinandersetzen?
Die Hassfrage für jeden Doktoranden schlechthin lautet: „Was macht deine Dissertation?“ Entweder tritt sie gerade auf der Stelle, oder man müsste auch jetzt noch am Schreibtisch sitzen statt in einer Kneipe. Noch anstrengender ist allerdings die Small-Talk-Frage: „Wovon handelt denn deine Doktorarbeit?“. Ließe sich der genaue Inhalt einer Dissertation so rasch erklären, wäre sie eigentlich keine mehr: Schließlich soll sie ein eigenständiger Beitrag zur Wissenschaft sein. Entsprechend unangenehm sind dann Reaktionen wie „huch, ist das abgefahren!“ oder „über was man so forschen kann“.
Garantiert plagiatsfrei
Es gab eine Zeit, in der immer mehr Plagiatsvorwürfe geäußert wurden, und sie kamen nicht von ungefähr. Allerdings wären wir damals in unseren kleinen Studienfächern gar nicht auf die Idee gekommen. Das Internet steckte bestenfalls in den Kinderschuhen und wäre ohnehin keine Hilfe gewesen, die Fachliteratur war im Wesentlichen bekannt, und man kannte sich in den entsprechenden Kreisen. Es wäre also schnell aufgefallen, wenn jemand abschreibt – verbreitet war vielmehr das Gefühl, sehr schnell auf relativ unerforschtes Terrain vorzudringen.
Wirklich nur „abgefahren“?
Aber tatsächlich hatte ich eine Möglichkeit an der Hand, relativ schnell ein paar Einblicke in das Thema zu gewähren, mit dem ich mich schon so lange beschäftigte. Der Titel meiner Dissertation lautet „Das baltische Adverb – Morphosemantik und Diachronie“. Nun gut, damit können nun sicherlich nicht alle auf Anhieb etwas anfangen, und das wäre, wie oben beschrieben, auch gar nicht wünschenswert. Aber die Beschäftigung mit Raum und Zeit ist höchst spannend, sowohl auf der kognitiven als auch auf der sprachwissenschaftlichen Ebene. Welche Raumkonzepte haben die Menschen? Wie stellen sie sich die Zeit vor? Und vor allem: Wie spiegelt sich das alles in den einzelnen Sprachen wider?
Mikrokosmos Adverb
Schon die Einteilung von Wortarten ist eine komplexe Materie, und dann sind die Adverbien auch noch eine besonders spannende Angelegenheit. Schließlich umfassen sie nicht nur die sogenannten Adjektivadverbien wie „sie singt schön“, sondern eben auch Lokaladverbien wie „hier“, „dort“, „oben“, „hinten“, „innen“, Temporaladverbien wie „heute“, „jetzt“, „kürzlich“ und vieles mehr. Die baltischen Sprachen sind außerdem nicht nur sehr konservativ, sondern Litauisch und Lettisch sind auch lebende Informantensprachen. Und so verbrachte ich mein Promotionsstudium nicht nur am Schreibtisch, sondern auch mit endlosen Gesprächen in Cafés in Riga oder Vilnius, um meine Listen mit lettischen und litauischen Muttersprachlern abzuarbeiten.
Siehe hierzu auch:
• Baltisch – was genau ist damit gemeint?
• Wortarten – im Reich der Grauzonen
• Wie alt sind Europas Sprachen?
• Was macht ein Wörterbuch aus?
• Ein Plädoyer für lateinische Grammatikbegriffe!
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!