Mit dem Begriff „baltische Staaten“ werden heute in der Regel Estland, Lettland und Litauen zusammengefasst. Aber das bietet auch allerhand Raum für Missverständnisse.
Das Adjektiv „baltisch“ ist von „Mare Balticum“ abgeleitet, dem mittelalterlichen Gelehrtennamen für die Ostsee. Die genaue Herkunft des Worts ist ungeklärt, aber bis heute heißt die Ostsee in vielen Sprachen „baltisches Meer“, vergleiche englisch „Baltic Sea“, spanisch „Már Baltico“ oder französisch „Mer Baltique“. Demnach könnte man also eigentlich alle Ostseeanrainerstaaten als „baltische Länder“ bezeichnen, und tatsächlich wurde in der Zwischenkriegszeit neben Estland, Lettland und Litauen auch Finnland zu den „baltischen Staaten“ gezählt. Es gibt also keinen Automatismus, weshalb ausgerechnet Estland, Lettland und Litauen zwangsläufig „baltisch“ sein müssten.
Was genau sind „baltische Sprachen“?
Im 19. Jahrhundert entdeckten Forscher die Abstammung vieler europäischer und asiatischer Sprachen von einer gemeinsamen Grundsprache. Da sie nicht erhalten war und sich keinem konkreten Volk zuordnen ließ, wurde der Kunstbegriff „indogermanisch“ geprägt, gebildet aus den nach dem damaligen Wissensstand am weitesten im Osten und im Westen gelegenen Sprachgruppen, das heißt „indisch“ und „germanisch“. Griechisch, Latein und die daraus entstandenen romanischen Sprachen, Slawisch, Keltisch – immer länger wurde im Laufe der Zeit die Liste der Sprachen und Sprachgruppen, die dieser Familie zugerechnet werden konnten. Auch die miteinander verwandten Sprachen Litauisch und Lettisch erwiesen sich als Teil dieser Sprachfamilie, und 1845 führte Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann „baltisch“ als Sammelbegriff ein. Neben dem Litauischen und Lettischen gehört außerdem das ausgestorbene Altpreußische (Prußische) zu dieser Sprachgruppe. Es wurde einst in Ostpreußen gesprochen, und von dort wurde dieser (baltische!) Name auf große Teile Deutschlands übertragen.
Und das Estnische?
Einige europäische Sprachen konnten dagegen nicht der indogermanischen Sprachfamilie zugeordnet werden. Dazu gehörten das Finnische und das eng damit verwandte Estnische sowie das weit entfernt verwandte Ungarische. Für sie wurde der Begriff „finnisch-ugrische Sprachen“ gewählt. Teil dieser Sprachfamilie ist auch das fast ausgestorbene Livische auf dem Territorium des heutigen Lettland.
Litauisch und Lettisch sind also – entgegen immer wieder geäußerten Vermutungen – keine slawischen Sprachen, sondern die letzten überlebenden Vertreter einer eigenständigen indogermanischen Sprachgruppe – eben des Baltischen.
Estnisch ist dagegen eine ostseefinnische oder finnisch-ugrische und damit keine „baltische“ Sprache, und Estnisch und Lettisch sind zwar Nachbarn, aber trotz einiger gegenseitiger Beeinflussungen so eng miteinander verwandt wie Deutsch und Türkisch: nämlich überhaupt nicht.
Wo gilt es aufzupassen?
Die Staaten Estland, Lettland und Litauen sind heute keineswegs sonderlich erpicht darauf, ständig in einen Topf geworfen und infolgedessen auch noch miteinander verwechselt zu werden. An die Schicksalsgemeinschaft als „baltische (Sowjet-)Republiken“ wird man dort sowieso nicht gerne erinnert. Die Bezeichnung „Baltische Staaten“ sollte daher – wenn überhaupt – nur dann verwendet werden, wenn wirklich alle drei Länder gemeint sind. Oft genug ist das aber weder notwendig noch angebracht. Und die Begriffe „baltische Staaten“ und „baltische Sprachen“ sind eben nicht deckungsgleich.
Siehe hierzu auch:
• Estland und Lettland – die fremden Freunde
• Wie schwierig ist Estnisch?
• Baltische Staaten, Baltenrepublik – wie sinnvoll sind diese Bezeichnungen?
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!