Der Zentralmarkt in Riga ist nicht etwa eine beliebige Ansammlung austauschbarer Buden und Verkaufsstände, sondern ein aufregendes Fest für die Sinne – und ein wahrer Mikrokosmus mitten im Zentrum der lettischen Hauptstadt.
Schon bei meinen ersten Besuchen in Riga zog es mich regelmäßig nicht nur an den wunderbaren Strand von Jūrmala, sondern auch auf den Zentralmarkt. Kurz nach der Unabhängigkeit war das Warenangebot in Lettlands Läden noch recht bescheiden, während es hier eine ungleich größere Auswahl gab. Aber noch mehr lockte das bunte, geradezu exotisch anmutende Treiben, das so gar nichts mit dem modernen westlichen Einzelhandel gemeinsam hatte, wie ich ihn aus Deutschland kannte.
Der Bauch von Riga
Bahngleise und der Hauptbahnhof trennen den Zentralmarkt von der historischen Altstadt. Ob er deshalb trotz seiner gewaltigen Ausmaße von manchen Besuchern immer noch übersehen wird? Dabei gehört er ebenso zum reichen architektonischen Erbe der lettischen Hauptstadt wie die zahlreichen Jugendstilbauten und ist seit 1998 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Der „Bauch von Riga“ zählt heute Tag für Tag mehrere zehntausend Besucher und gehört zu den größten innerstädtischen Märkten in ganz Europa! Aber natürlich hat der Markt auch eine lange Vorgeschichte.
Aus Zeppelin- werden Markthallen
Nach dem Ersten Weltkrieg entsprach der alte, am Flussufer gelegene Markt nicht mehr den Anforderungen der Kunden und Händler. Zu eng und zu unhygienisch ging es dort zu, sodass sich auch die Stadt zum Einschreiten genötigt sah. Dabei entschied man sich für eine architektonisch überaus ungewöhnliche Lösung: Es wurden die Gerüste der in Vaiņode vor dem Krieg errichteten Zeppelinhallen abgebaut, nach Riga transportiert und dort neu errichtet. So entstanden eine größere Markthalle mit einer Fläche von 5.000 m² und vier kleinere Markthalle mit jeweils knapp 2.600 m², und bei der Eröffnung 1930 verfügte Riga über einen der größten und modernsten Märkte in ganz Europa. Die Hallen waren wie heute auf unterschiedliche Produkte spezialisiert und hatten unterirdische Kühl- und Lagerräume. Schon bald wurde der Rigaer Zentralmarkt mit seinem reichhaltigen und hochwertigen Angebot zum Magnet für Besucher weit über die Stadtgrenzen hinaus. Nicht einmal in der Sowjetzeit kam die „Marktwirtschaft“ zum Erliegen, ganz im Gegenteil: Da die Kolchosen hier höhere Preise für ihre Produkte erzielen konnten, gab es zu kaufen, was aufgrund der kommunistischen Misswirtschaft anderswo an den Ladentheken fehlte.
Angekommen in der neuen Zeit
In der Sowjetzeit unterblieben notwendige Investitionen in die Anlagen, und im Umfeld breiteten sich Billig- und Ramschbuden aus. Hinzu kam die wachsende Konkurrenz durch die Supermärkte, die viele Produkte günstiger anbieten konnten. Trotzdem: Sie können das ganz spezielle Einkaufserlebnis nicht ersetzen, diese fast einmalige Mischung aus Zeitreise, Entschleunigung und Schlaraffenland. Und wenn man mich heute fragt, was ich in Rigas Markthallen am meisten liebe, dann sind es die vielen selbstangebauten oder selbstgemachten Produkte, vom selbstgeschleuderten Honig und getrockneten Kräutern aus dem eigenen Garten bis zu Brot, das nach uralten Geheimrezepten gebacken worden sein muss. Und welcher Supermarkt bietet schon 50 Sorten saure Sahne an? Aber auch die Freuden des Übersetzers bleiben nicht unerfüllt – nämlich dann, wenn es mal wieder einen schönen Film als Auftrag gibt!
Siehe hierzu auch:
• Berlin-Tallinn per Zug: Wann geht das endlich wieder?
Jurmala
• Jūrmala: Höhen und Tiefen eines Ostseebades
• Lettland nach der Stunde Null
• „Riga – Perle des Jugendstils“
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!