Das Thema Gendern erhitzt in Deutschland die Gemüter. Aber wie sieht es mit anderen Ländern und Sprachen aus?
Als ich Finnisch lernte, kam ich zum ersten Mal mit einer Sprache in Berührung, die kein Genus kennt, also kein grammatisches Geschlecht. Natürlich gibt es Wörter wie „Mann“ und „Frau“ oder „Bruder“ und „Schwester“, aber das Personalpronomen der 3. Person Singular „hän“ kann sowohl „er“ als auch „sie“ bedeuten. Auch bei den Berufsbezeichnungen gibt es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Unterschiede: Ein „opettaja“ kann daher ein „Lehrer“ oder auch eine „Lehrerin“ sein. Das Finnische gehört wie das Estnische oder das Ungarische nicht zum indogermanischen Sprachstamm, sondern ist eine finnisch-ugrische Sprache, wo es seit jeher kein Genus gibt. Dasselbe gilt übrigens auch für eine Vielzahl von Sprachen auf der Welt, darunter für Japanisch, Koreanisch oder Türkisch.
Kein Genus, mehr Gleichberechtigung?
Tatsächlich sind die indogermanischen Sprachen die einzigen weltweit, die ursprünglich über drei Genera verfügten, auch wenn manche von ihnen später dieses System reduziert haben. Tatsache ist allerdings, dass das Vorhandensein von Genera nicht automatisch mit mehr Gleichberechtigung Hand in Hand geht. Spitzenreiter Island hat das klassische System mit drei Genera bewahrt, Finnland nimmt zwar eine führende Position ein, nicht aber Estland oder Ungarn. Würde die Behauptung „Sprache prägt das Bewusstsein“ zutreffen, müssten Länder wie Japan, Korea oder die Türkei klar an der Spitze und Estland deutlich vor Lettland liegen, während Schweden, Norwegen und Dänemark bestenfalls auf mittlere Plätze kämen.
Was mir in der deutschen Debatte zu oft fehlt, sind sprachwissenschaftliche Argumente oder der Blick über den Tellerrand. Genus ist eine rein grammatische Kategorie und nicht mit „Geschlecht“ gleichzusetzen: Schließlich ist der Tisch kein Mann, sondern ein Maskulinum, die Gabel keine Frau, sondern ein Femininum. Deutsche Wörter wie „Geisel“, „Person“, „Leiche“, „Opfer“ „Kind“ oder „Mitglied“ sind also nicht „genusneutral“, denn sie sind sehr wohl Feminina oder Neutra – aber sie können sowohl männliche als auch weibliche Personen bezeichnen, weshalb Formen wie „Mitglieder*innen“ geradezu grotesk wirken. Im Isländischen gibt es zahlreiche Maskulina, die Frauen bezeichnen, und umgekehrt. Anstoß nimmt dort so gut wie niemand daran – fehlende Gleichberechtigung wird anderswo verortet (und angegangen) als in der Sprache. Schwedinnen wehrten sich einst gegen weibliche Berufsbezeichnungen auf -inna (z.B. lärarinna „Lehrerin“), weil sie diesen Zusatz als diskriminierend oder unnötig empfanden. Lettisch „puika“ (Junge) bildet feminine Formen, ohne dass sich deshalb ein männliches Wesen herabgesetzt fühlt. Mit dem deutschen Suffix –er werden sogenannte Nomina agentis gebildet, die keineswegs nur Personen bezeichnen. Der Notenständer oder der Wegweiser sind damit ebenso wenig automatisch „männlich“ wie der Mieter, der Kreditnehmer, der Auftraggeber oder der Schuldner, wenn beispielsweise von Unternehmen die Rede ist.
Die Herausforderung für den Übersetzer
Wenn ich aus Sprachen ohne Genus wie Estnisch übersetze, muss ich mir in vielen Fällen überlegen, ob ich im Singular eine feminine oder maskuline Berufsbezeichnung wähle, und das ist dann umso schwieriger, wenn der Vorname nicht angegeben ist. „Kaptein A. Ojasoo“ kann also sowohl ein Kapitän A. Ojasoo als auch eine Kapitänin A. Ojasoo sein. Ist mir der Vorname nicht geläufig oder wird er gar nicht erst erwähnt, muss ich nach anderen Hinweisen Ausschau halten – oder verwende eben das generische Maskulinum (wohl gemerkt: nicht im Sinne von aufoktroyierter „Männlichkeit“) und verweise in einer Fußnote darauf. Wortungetüme wie „Gäst*innenwirt*innen“, oder Übersetzungen wie „Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister danken den Wählerinnen und Wählern der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für die Unterstützung ihrer Kandidatinnen und Kandidaten“ sind bei Kunden oft gar nicht gewünscht, weil sie den Lesefluss stören und ganz einfach länger (und damit teurer) sind und Formatierungen sprengen können. Dass Esten mit ihrer Sprache ohne Genus nicht wesentlich anders oder gar fortschrittlicher denken als wir, wird im Übrigen auch dadurch deutlich, dass Bezeichnungen für Frauen durch die Vorsilbe nais- (abgeleitet von naine „Frau“) gekennzeichnet werden können, wenn ein Beruf oder eine Position erst einmal ungewöhnlich für eine Frau erscheint. So wurde bei der Wahl von Angela Merkel ins Kanzleramt in der estnischen Presse gerne der Begriff „naiskantsler“ gewählt. Das Zweitglied „mees“ (Mann) wird dagegen keineswegs automatisch als „Mann“ gedeutet – ein esimees kann also ein Vorsitzender oder eine Vorsitzende sein, wenn es in diesem Zusammenhang keine größere Rolle spielt. Soll dagegen hervorgehoben werden, dass es sich um eine Frau handelt, ist die Bildung esinaine möglich oder – das finde ich besonders schön – naisesimees („Frau-Vor-Mann“).
Siehe hierzu auch:
• Wie schwierig ist Estnisch?
• Ein Plädoyer für lateinische Grammatikbegriffe!
• Sprachverwandtschaften als Lernhilfe
• Mir fehlt ein Wort!
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!