Isländisch gilt oft als schwer zu erlernende Fremdsprache. Das liegt aber nicht nur an der Aussprache und an dem reichen Formenbestand, sondern auch an der konservativen Sprachpolitik. So werden Fremdwörter gezielt vermieden, und das ist manchmal unpraktisch – zuweilen aber auch unwiderstehlich komisch.
Wenn ich in einer Fremdsprache nicht weiterkomme, behelfe ich mir mit Internationalismen, die oft aus dem Lateinischen oder Griechischen stammen. Dazu gehören Wörter wie „funktionieren“, „international“, „Problem“, „Musik“, „Politik“, „System“, „Motor“, „optimistisch“, „realistisch“ und vieles mehr. Im Isländischen geht das allerdings nicht wirklich: Die Sprachpolitik des Landes sieht vor, auf solche Wörter weitgehend zu verzichten. Dabei ist man erstaunlich fantasievoll (oder auf gut Deutsch: „einfallsreich“).
Aus Alt mach Neu
Schon bei der Ankunft in Island werden Reisende aus dem Nicht-Schengenraum aufgefordert, ihren „vegabréf“ vorzuzeigen. Dieser „Wegebrief“ ist natürlich nichts anderes als ein „Reisepass“, und in dem hat man zur Einreise aus vielen außereuropäischen Ländern auch kein „Visum“, sondern eine „vegabréfsáritun“ (wörtlich „Pass-Eintragung“). An der Universität, Verzeihung „Háskóli“ (Hochschule), erwartet einen ein wunderbar skurriles Vorlesungsverzeichnis mit Fächern wie „efnafræði“ („Stofflehre“ = Chemie), „stærðfræði“ („Größenlehre“ = Mathematik) oder „læknisfraeði“ („Heilkunde“ = Medizin). Dabei handelt es sich meist um Kunstbildungen aus bestehenden Wörtern. Teilweise wurden aber auch altisländische Wörter mit einem neuen Inhalt versehen. Das Wort „sími“ (Telefon) bedeutete ursprünglich „Draht“, „kerfi“ (System) war „Bündel“. Auch neue Zusammensetzungen sind möglich: ein „farsími“ ist ein Handy, ein „snjallsími“ (snjall = gescheit) ein Smartphone. Aus „smá-“ (klein) und „sjá“ (sehen) wird ein „smásjá“ (Mikroskop), aus „mynd“ (Bild) und –varpi („Werfer“) kann ein „myndvarpi“ (Projektor) gebildet werden, ebenso aus „skjár“ (Schirm, Bildschirm) und –varpi ein „skjávarpi“ (Beamer). Ein reines Kunstwort ist „tölva“ (Computer), entstanden aus „tala“ (Zahl) und „völva“ (Weissagerin). Die Informatik heißt übrigens „tölvufræði“ („Zahlen-Weissagerinnen-Lehre“).
Lustig (oder auch inspirierend!) finde ich nicht nur manche dieser Wörter und Wortbildungen, sondern auch, wie selbstverständlich sie die Leute im Alltag verwenden. In seiner „skrifstofa“ (Schreibstube = Büro) hat man eben sein „sími“ und seine „tölva“ auf dem Tisch stehen. Bevor wir aber über das Isländische schmunzeln: Bei uns widersetzt sich das „Fernsehen“ erstaunlich hartnäckig allen griechisch-lateinisch-englischen „Television“-Bildungen. Die „Erdkunde“ steht neben der Geografie wie die „Festplatte“ neben der Hard disc. Übrigens gibt es in der isländischen Umgangssprache auch diverse Anglizismen, aber wozu braucht man ein „Mousepad“, wenn man auch „músarmotta“ (Mäusematte) sagen kann?
Ein Paradies für Puristen?
Puristen mögen jubeln, aber auch die Nachteile sollten nicht verschwiegen werden. Zunächst einmal ist der Lernaufwand sehr viel höher, wenn man statt „Revolution“ auf „bylting“ (Umsturz) zurückgreifen muss. Zum Glück verstehen einen die Isländer allerdings meistens, wenn einem ein Wort nicht einfällt und man einen Internationalismus verwendet, und man ist selbst nicht immer konsequent: Neben „stjórnmál“ (= Leitungsangelegenheiten) gibt es auch „pólitík“. Und noch etwas gilt es zu bedenken: Eine „Hochschule“ und eine „Universität“ sind nicht dasselbe, und auch sonst reduziert sich manchmal die Ausdrucksvielfalt. Wenn ich als Übersetzer in die Zukunft blicke, habe ich manchmal ein Problem, Verzeihung, eine Schwierigkeit, denn dann muss ich meine Intelligenz, pardon meinen Verstand („skynsemi“), bemühen und mir überlegen, ob ich optimistisch oder zuversichtlich („bjartsýnn“) bin.
Siehe hierzu auch:
• Die Isländersagas – Islands Beitrag zur Weltliteratur
• Internationalismen: Wie universell sind sie wirklich?
• Isländisch und seine tierischen Redensarten
• Falsche Freunde – von lustig bis tückisch
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!