Ein männliches Mittelwort im Wesfall, und dann auch noch in der Leideform: Welchen Gefallen tun wir uns mit solchen Bezeichnungen?
Unsere Grundschullehrerin brachte uns schon ab der 3. Klasse die deutsche Grammatik näher – kindgerecht und mit wunderbar anschaulichen Beispielen, aber auch sehr systematisch. Vor allem aber lernten wir konsequent die entsprechenden lateinischen Fachbegriffe. Zwei Jahre später kamen Kinder aus verschiedenen Grundschulen in einer neuen Klasse zusammen, und wer von uns schon wusste, was ein Infinitiv, ein Nominativ oder eine Präposition war, war im Deutsch- und im Fremdsprachenunterricht klar im Vorteil.
Zu viel Lernaufwand?
Manche deutschen Grammatikbegriffe wirken auf den ersten Blick einleuchtend und praktisch zu handhaben, zum Beispiel „Gegenwart“ (statt „Präsens“) oder „Eigenschaftswort“ (statt „Adjektiv“). Aber nicht alle Fachbegriffe müssen deshalb automatisch eine Hürde darstellen: „maskulin“ und „feminin“ kennen wir auch aus anderen Zusammenhängen, und auch „Singular“ (statt „Einzahl“) und „Plural“ (statt „Mehrzahl“) sind relativ eingängig. Wer eine Sprache lernen will, muss meist ein komplexes Regelwerk und einige tausend Wörter verinnerlichen. Im Vergleich dazu erscheint der Lernaufwand für die notwendigen Fachbegriffe eher gering.
Fehlende Bekanntheit, fehlende Begriffe
Jenseits von „Gegenwart“ oder „männlich, weiblich und sächlich“ wird es schwieriger. Gewiss, was ein „Partizip“ oder ein „Reflexivpronomen“ ist, gehört vielleicht nicht unbedingt zum klassischen Allgemeinwissen. Aber gilt das dann nicht auch für die entsprechenden Begriffe „Mittelwort“ und „rückbezügliches Fürwort“? Was ist im Zweifelsfall bekannter – die „Präposition“ oder das „Verhältniswort“? Und wie heißt der „Nominativ“ doch gleich auf Deutsch? Ist das der „1. Fall“ oder der „Werfall“? Warum soll „3. Fall“ einfacher zu merken sein als „Dativ“? Selbst müsste ich inzwischen nachschlagen, was eine „Nennform“ sein soll (nämlich der „Infinitiv“) oder eine „Leideform“ (das „Passiv“). Was machen wir außerdem, wenn wir eine Sprache lernen, die über Kategorien verfügt, die das Deutsche oder uns sonst bereits bekannte Sprachen überhaupt nicht kennen? Vom Instrumental über den Elativ bis zum Medium? Wie umschreibe ich ein Supinum oder einen Translativ? Ein Mischsystem mit „Gegenwart“ und „Perfekt“ oder „Einzahl“ und „Dual“ macht es auch nicht eben übersichtlicher.
Tempus versus Zeit, Genus versus Geschlecht
Der Satz „morgen backe ich Brot“ bezieht sich auf ein Ereignis in der Zukunft. Aber ist „ich backe“ denn nicht „Gegenwart“? Solche Widersprüche vermeiden wir, wenn wir „Präsens“ als rein grammatische Kategorie betrachten. Und tatsächlich kann ein deutsches Präsens sowohl Gegenwärtiges als auch Zukünftiges bezeichnen. Ähnliches gilt für das Genus, also für das grammatische Geschlecht. „Maskulin“ ist eben nicht dasselbe wie „männlich“, denn schließlich ist der Tisch kein Mann, die Lampe (feminin) keine Frau und das Kind (ein Neutrum) keine Sache. Die deutschen Begriffe sind auch nicht unbedingt einleuchtender oder logischer. Bei einem „Zeitwort“ würde ich spontan eher an „morgen“ als an ein Verb denken, und warum soll ein „Hauptwort“ (Substantiv) wichtiger sein als andere Wortarten? Nicht jedes „Tätigkeitswort“ (ein weiterer Begriff für Verb) drückt aus, dass jemand etwas tut – es kann auch um dauerhafte Zustände gehen. Nicht jedes „Dingwort“ bezeichnet einen Gegenstand, schließlich gibt es auch Abstrakta. Wenn wir also eine Sprache mit einer umfangreichen Grammatik oder mit uns unbekannten Kategorien lernen, kommen wir kaum umhin, diesen Phänomenen Namen zu geben und sie zu lernen. Und wenn wir das ohnehin tun: Warum nicht gleich die international verbreiteten Fachbegriffe nehmen und „intransitives Verb“ statt „nichtzielendes Zeitwort“ oder „Relativpronomen“ statt „zurückweisendes Fürwort“ verwenden – zumal wir dann auch beim Erlernen weiterer Fremdsprachen darauf zurückgreifen können?
Siehe hierzu auch:
• Sprachenlernen ohne Grammatik, ohne Mühe und in 30 Tagen?
• Wortarten – im Reich der Grauzonen
• Was macht ein Wörterbuch aus?
• Schwieriger geht immer – aber gilt das auch für Sprachen?
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!