In Litauen und Lettland, aber auch in einigen anderen europäischen Ländern erzählt man gerne, dass die eigene Sprache besonders alt sei. Aber an welchen Kriterien lässt sich so etwas festmachen?
Litauer behaupten gerne, dass ihre Sprache die älteste in Europa sei. Lettisch ist mit Litauisch verwandt, enthält aber mehr Neuerungen. Und so erzählen die Letten immer wieder, ihre Sprache sei die zweitälteste in Europa. So schön das erst einmal klingen mag: Für die schriflichen Überlieferungen trifft das definitiv nicht zu, denn die ältesten litauischen und lettischen Texte stammen erst aus dem 16. Jahrhundert. In dieser Hinsicht liegt Griechisch in Europa ganz klar an der Spitze, denn die ältesten Inschriften stammen bereits aus dem 2. Jahrtausend vor Christus. Im 1. Jahrtausend vor Christus folgt das Lateinische, und sowohl Latein als auch Griechisch haben einige Namen aus anderen Sprachen festgehalten, sodass wir deren Existenz teilweise zumindest erahnen können. Mit den baltischen Völkern bestanden jedoch so gut wie keine direkten Kontakte.
Der Vormarsch der Schrift
Das Sprachgebiet der Kelten erstreckte sich einst über weite Teile Mitteleuropas. Allerdings haben die Kelten selbst so gut wie keine Schriftzeugnisse hinterlassen. Die ältesten germanischen Runeninschriften lassen sich ungefähr auf das 1. Jahrhundert nach Christus datieren, aber ihre Anzahl bleibt insgesamt gering. Erst mit der Christianisierung verbreitet sich die lateinische Schrift nach und nach über den Kontinent und wird von immer mehr bis dahin mehr oder weniger schriftlosen Sprachen übernommen. Die ersten deutschen Textzeugnisse lassen sich auf das 9. Jahrhundert nach Christus datieren, und an ihnen ist zu erkennen, wie sich die Sprache nach und nach wandelt und wie aus dem Alt- das Mittel- und schließlich das Neuhochdeutsche entsteht.
Aus alt wird neu
Tatsächlich gibt es viele Sprachen mit der Vorsilbe „Alt-“ wie Althochdeutsch, Altgriechisch oder Altenglisch. Das ist allerdings keine absolute Altersbezeichnung, sondern heißt eigentlich nur, dass es mindestens eine nachfolgende Sprachstufe gibt. Das wären dann beispielsweise Neugriechisch oder Mittel- und Neuenglisch. Hat sich eine Sprache im Zeitraum der überlieferten Texte nicht wesentlich verändert, besteht eigentlich auch kein Anlass für eine Einteilung in „Alt-“ und „Neu-“. In Bezug auf das Alter der Überlieferungen gehören wie gesagt die beiden baltischen Sprachen Litauisch und Lettisch (aber beispielsweise auch Albanisch) eher zu den „Schlusslichtern“ in Europa. Zwar haben Litauisch und Lettisch (und übrigens auch das nichtindogermanische Finnisch) seit ihrer ersten Verschriftlichung im 16. Jahrhundert keine radikalen Änderungen durchgeführt, aber da es aus der Zeit davor keine Textzeugnisse gibt, kann über das Tempo und den Ablauf der vorangegangenen Entwicklung allenfalls spekuliert werden.
Alt versus altertümlich
Durch den Sprachvergleich lässt sich allerdings vor allem bei den indogermanischen Sprachen feststellen, wie weit sie sich von der vermuteten Grundsprache entfernt haben. So hat sich beispielsweise das Französische gegenüber dem Lateinischen in vieler Hinsicht stärker verändert als das Italienische, das Isländische ist konservativer als seine nordgermanischen Geschwister Schwedisch, Dänisch und Norwegisch, ebenso das Lettische gegenüber dem Litauischen. Natürlich fallen Sprachen auch nicht einfach vom Himmel, sondern entwickeln sich aus anderen Sprachen. Insofern wäre die einfachste Antwort nach dem Alter einer Sprache, dass alle Sprachen mehr oder weniger gleich alt sind. Genaue Informationen über den Entwicklungsstand erhalten wir erst, wenn es auch schriftliche Zeugnisse gibt. Wie schnell oder wie langsam sich die betreffende Sprache jedoch davor verändert hat, können wir höchstens durch Sprachvergleiche erkennen. Hier schneidet das Litauische tatsächlich erstaunlich gut ab: Die lautlichen und grammatischen Neuerungen sind so gering (wenn auch durchaus vorhanden), dass man getrost von einer relativ konservativen Sprache sprechen kann; dasselbe gilt übrigens auch für das nicht-indogermanische Finnische. Das erklärt, warum das Litauische sowie das Lettische für Indogermanisten so spannend sind, denn wir haben es hier nicht nur mit Sprachen zu tun, die in Bezug auf ihren Entwicklungsstand in etwa mit Latein zu vergleichen sind, sondern auch lebende Sprachen mit einer quasi unbegrenzten Zahl an Texten und Informanten sind.
Siehe hierzu auch:
• Sprachverwandtschaften als Lernhilfe
• Ein Plädoyer für lateinische Grammatikbegriffe!
• Baltisch – was genau ist damit gemeint?
• Die Isländersagas: Islands Beitrag zur Weltliteratur
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!