Litauisch und Lettisch sind die einzigen noch lebenden Vertreter der baltischen Sprachgruppe. Aber wie ähnlich sind sie sich eigentlich?
„Litauer und Letten (und Esten) – die müssen sich doch gegenseitig irgendwie verstehen, wo ihre Länder doch so klein sind und direkt nebeneinanderliegen.“ Wirklich? Zu den Punkten, die ich immer wieder richtigstellen oder überhaupt erst erklären muss, gehört, dass die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland jeweils eigene und mehr oder weniger stark voneinander abweichende Sprachen haben. Von diesen gehört das Estnische zusammen mit dem benachbarten Finnischen zum ostseefinnischen Zweig der finnisch-ugrischen Sprachfamilie, Lettisch und Litauisch sind dagegen baltische Sprachen und Teil der indogermanischen Sprachfamilie. Abgesehen davon: Sprachgrenzen können quasi überall verlaufen, und die Gebiete miteinander überhaupt nicht verwandter Sprachen können sehr wohl aneinandergrenzen.
Getrennte historische Entwicklung
Über die Frühzeit der Balten im Sinne der Angehörigen der baltischen Sprachgruppe ist wenig bekannt. Das ändert sich erst im frühen 13. Jahrhundert, als der Schwertritterorden versucht, das Gebiet zu unterwerfen. Auf dem Gebiet des heutigen Estland und Lettland gelingt die Eroberung, während sich die Litauer widersetzen und ein mächtiges Großfürstentum gründen. Bis Ende des 18. Jahrhunderts ist die Geschichte Litauens eng mit der Polens verbunden, was sich auch sprachlich bemerkbar macht. Dagegen ist der deutsche Einfluss im Lettischen deutlich spürbar, ebenso der Kontakt zu den finnisch-ugrischen Liven. Erst im 18. Jahrhundert fällt das ganze Gebiet an Russland und wird von diesem Zeitpunkt an zur Schicksalsgemeinschaft.
Es gibt ohnehin nur wenige Fälle, in denen sich Angehörige zweier miteinander verwandter Sprachen relativ schnell und problemlos unterhalten können. Für Litauisch und Lettisch trifft das definitiv nicht zu, was sicher auch an der getrennten historischen Entwicklung liegt. In der Grammatik sind die Parallelen unübersehbar, ebenso im Wortschatz. Aber Litauisch kennt den freien Wortakzent, Lettisch betont immer die erste Silbe, und auch sonst unterscheidet sich die Aussprache erheblich, und beide Sprachen klingen sehr unterschiedlich.
Falsche Freunde en masse
Zwischen verwandten Sprachen gibt es das Phänomen der sogenannten falschen Freunde, und das gilt auch für das Litauische und das Lettische. Eine Flut von Wörtern lässt sich mit oder ohne Kenntnisse von Lautgesetzen rasch auf gemeinsame Wurzeln zurückführen, aber die Bedeutung kann sich entweder auf lustige Weise verschoben haben oder teilweise erheblich voneinander abweichen. Litauisch „duona“ bedeutet „Brot“, lettisch „dona“ ist der Brotkanten. Litauisch „smagus“ bedeutet „heiter, vergnügt“, lettisch „smags“ dagegen „schwer“. Für das Lesen, Übersetzen und das Hörverständnis bereitet mir das natürlich keine Probleme, aber wenn ich von einer Sekunde auf die andere von einem lettischen Gespräch ins Litauische überwechseln muss, brauche ich tatsächlich ein paar Schocksekunden – oder mache drollige Fehler.
Siehe hierzu auch:
• Baltisch – was genau ist damit gemeint?
• Litauen: Europas vergessene Großmacht
• Falsche Freunde – von lustig bis tückisch
• Baltische Staaten, Baltenrepublik – wie sinnvoll sind diese Bezeichnungen?
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!