Über das Lettische selbst ist bei uns meistens nur sehr wenig bekannt. Darüber hinaus ist aber auch die sprachliche Situation in Lettland durchaus kompliziert, denn gesprochen wird dort auch viel Russisch – und Livisch.
Immer wieder ernte ich erstaunte Blicke, wenn ich sage, dass ich Übersetzer für Lettisch bin. Der Grund dafür ist nicht nur, dass nur sehr wenige bei uns diese Sprache beherrschen. Vielmehr machen sich viele auch gar keine Gedanken darüber, ob ein Staat wie Lettland vielleicht auch eine eigene Sprache hat und wie diese womöglich beschaffen ist. Wieder und wieder weise ich darauf hin, dass es das Lettische sehr wohl gibt, dass es mit lateinischen und nicht mit kyrillischen Buchstaben geschrieben wird, dass es keine slawische, sondern eine baltische Sprache ist, und dass es als solches mit dem Litauischen, nicht aber mit dem Estnischen verwandt ist. Aber auch die sprachliche Situation in Lettland selbst ist gar nicht so einfach zu beschreiben.
Die Sonderrolle des Livischen
Bis auf eine schmale Handvoll Kenner und Experten weiß wohl kaum jemand, dass auf weiten Gebieten des heutigen Lettlands ursprünglich Livisch gesprochen wurde, eine finnisch-ugrische Sprache, die mit dem Estnischen und Finnischen urverwandt ist, nicht aber mit dem Lettischen. Das Livische hat das Lettische zwar stark geprägt, aber sein Sprachgebiet schrumpfte ab dem Mittelalter immer weiter zusammen und beschränkt sich heute allenfalls auf ein paar Dörfer an der Nordspitze Kurlands.
Seit Jahren wird dem Livischen das Aussterben vorausgesagt, oder es machen wieder einmal Meldungen die Runde, dass nun aber wirklich der allerletzte livische Muttersprachler gestorben sei. Die Liven und ihre Nachkommen sind natürlich schon lange mindestens zweisprachig, aber einige von ihnen betrachten das Livische ausdrücklich als ihre Muttersprache und sprechen es in der Familie oder mit anderen Liven. Besonders eindrücklich fand ich ein Interview mit der Künstlerin und Poetin Baiba Damberga, die zu den wenigen verbliebenen livischen Muttersprachlerinnen gehört – und natürlich sind Leute wie sie sehr gefragt, wenn es darum geht, das Livische am Leben zu erhalten und zu fördern. So gibt es immer mehr Kurse und Lehrmaterial, und Kinder können heute in Sommerlagern Livisch lernen, wenn sie mehr über die Sprache ihrer Vorfahren erfahren wollen.
Die „russische“ Minderheit in Lettland
Ungleich bekannter ist die Tatsache, dass es in Lettland eine große russische Minderheit gibt. Ganz korrekt ist dieser Begriff indes nicht, und deshalb verwende ich auch die Anführungszeichen. Damit gemeint sind in der Regel die Zuwanderer während der Sowjetzeit, die aber mitnichten alle aus Russland kamen. Dagegen gab es schon vor der sowjetischen Okkupation eine alteingesessene russische Minderheit in Lettland, an die in diesem Zusammenhang meistens nicht gedacht wird. Über die Rolle des Russischen im lettischen Alltag und das Verhältnis zwischen den Alteingesessenen und den Zuwanderern bzw. ihren Nachfahren gibt es eine Flut von – leider nicht immer sonderlich gut recherchierten – Berichten, und je nach politischer Großwetterlage kann das Thema plötzlich wieder zu einem heißen Eisen werden. Zum Glück setzt sich aber mehr als 30 Jahre nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands auch bei uns die Erkenntnis durch, dass den Letten das Russische nicht automatisch angeboren ist, sondern dass es ihnen während der Sowjetzeit aufgezwungen wurde, und dass sie in ihrem eigenen Land endlich ihre eigene Sprache sprechen wollen. Aber klar sein muss auch: Das Thema lässt sich nicht mit ein paar schnellen Schlagworten abhandeln. Längst gibt es nicht mehr „die Letten hier“ und „die Russen dort“ – und zum Glück gehen die Menschen das Thema im Alltag deutlich pragmatischer an, als viele bei uns glauben oder man uns glauben machen will.
Siehe hierzu auch:
• Ein lettisches Sommermärchen
• Baltisch – was genau ist damit gemeint?
• Baltische Staaten, Baltenrepublik – wie sinnvoll sind diese Bezeichnungen?
• Estland und Lettland – die fremden Freunde
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig und übersetzt aus den Sprachen Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch in seine Muttersprache Deutsch. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer für Schwedisch und Lettisch, staatlich überprüfter Übersetzer für Isländisch, staatlicher Prüfer für Estnisch, Lettisch und Isländisch und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!