Lettland war bei uns lange Zeit so gut wie vergessen. Trotzdem habe ich mich schon vor vielen Jahren auf Spurensuche nach Riga begeben und eine ganz besondere Beziehung zu Land und Leuten aufgebaut. Wie kam es dazu?
Im Pass meines Vaters steht als Geburtsort „Riga“, und somit wusste ich immerhin schon als Kind, dass eine solche Stadt existiert. Darüber hinaus assoziierte ich den Namen allerdings vor allem mit Schwarz-Weiß-Fotos, die ältere Damen beim Kaffee herumreichten. Bis in die achtziger Jahre waren Reisen nach Lettland so aufwendig und teuer, dass sie für mich als Schüler nicht in Frage kamen. Aber meine Eltern waren sehr gastfrei, und so konnte 1990 ein sympathischer Gast aus Riga ein paar Wochen bei uns übernachten. Er hatte den ganzen Weg in einem kleinen Auto zurückgelegt, und als wir ihn fragten, ob das nicht recht lange gedauert habe, meinte er: „Ach nein, nur drei Tage“. Wir unterhielten uns viel miteinander, und er lud mich herzlich ein, ihn und seine Familie in Riga zu besuchen. Das schien aufgrund der politischen Lage vorerst nicht angeraten, doch mein Interesse war von nun an geweckt.
Ein Hoch auf die Neugier
Als ich in meinem ersten Semester im Vorlesungsverzeichnis eine zweistündige Übung „Einführung ins Lettische“ entdeckte, war ich sofort Feuer und Flamme, zumal ich mich als Student der Nordistik und Slawistik ohnehin für die anderen Länder des Ostseeraums interessierte. Die wenigen Unterrichtsstunden reichten zwar nur für die Aussprache, die Grundzüge der Grammatik und ein paar elementare Phrasen, aber meine Lehrerin machte mich am Ende des Kurses noch auf ein relativ neues (d.h. nicht aus der Vorkriegszeit stammendes) Lettisch-Lehrbuch aus Schweden aufmerksam, das ich mit viel Mühe tatsächlich auftrieb. Ausgerechnet bei meinem Studium in Island traf ich dann zum ersten Mal einen gleichaltrigen Letten, der natürlich aus allen Wolken fiel, als ich ihn mit meinen wenigen Brocken Lettisch ansprach. Wir freundeten uns sofort an, und zum Glück hatten wir mit Russisch auch eine Sprache, in der wir uns gut unterhalten konnten. Auch er lud mich herzlich ein, ihn in Riga zu besuchen. Damit war spätestens jetzt die Sache klar. Also ließ ich mir mein Lehrbuch aus Deutschland nachschicken und bereitete mich während meines Aufenthalts in Island mit diesem schwedischen Lehrwerk auf einen Aufenthalt in Lettland vor.
Erste Begegnung mit Riga
Zum Glück gab es von meinem damaligen Studienort Kiel eine durchgehende Fährverbindung nach Riga. Die Überfahrt dauerte 40 Stunden (zuzüglich Verspätung), und die Fähre war kein Luxusdampfer, sondern ein rechtes Piratenschiff, aber die mühsame Bahnfahrt blieb mir damit vorerst erspart. Über meine ersten Eindrücke in Riga habe ich schon in einem anderen Beitrag erzählt (Lettland und seine Stunde Null): Lettland war wieder unabhängig, und die staatlichen Institutionen steckten noch in den Kinderschuhen. Also knirschte es natürlich an allen Ecken und Enden ein wenig, aber insgesamt funktionierte das Land erstaunlich gut. Vor allem aber war Riga für mich plötzlich keine Stadt in Schwarzweiß mehr, sondern bunt und quirlig, mit einer Vielzahl von Sehenswürdigkeiten und einer wahren Flut an Eindrücken. Natürlich besichtigte ich auch das Wohnhaus meiner Großeltern und andere Orte, die in Beziehung zu meiner Familie standen – und parallel dazu machte ich immer mutigere Gehversuche in einer Sprache, von der ich noch zwei Jahre zuvor nicht einmal hätte sagen können, wie sie überhaupt klingt.
Auf Spurensuche in Riga
Die Frage, wie ich darauf gekommen bin, Lettisch zu lernen oder mich beruflich damit zu befassen, ist mir seither unendlich oft gestellt worden. Ich finde sie überhaupt nicht leicht zu beantworten, schon gar nicht auf die Schnelle und in aller Kürze. Sicher hatte auch der Zufall seine Hand im Spiel, aber am ehesten würde ich sagen: Ich war aufgeschlossen, erkannte Gelegenheiten – und habe sie genutzt. Andere hätten eine „Einführung ins Lettische“ im Vorlesungsverzeichnis vielleicht übersehen und sich nicht mit viel Aufwand ein Lehrbuch bestellt, das in einer Drittsprache geschrieben ist und eine ganz andere Zielgruppe hat. Ich traf Menschen, die mich einluden, aber vielleicht hätte nicht jeder einen Studenten spontan angesprochen, weil auf seinem T-Shirt „Riga“ stand, und ich hätte einfachere und bequemere Reiseziele wählen können. Natürlich hat mir auch kein geheimnisvoller Zauber dabei geholfen, die Sprache zu lernen – das war harte Arbeit und erforderte sehr viel Motivation und vor allem Fleiß. Aber Land und Leute hatten es mir sofort angetan, und vielleicht hatte ich in Lettland etwas gefunden, das mich besonders ansprach – und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Siehe hierzu auch:
• Berlin-Tallinn per Zug – wann geht das endlich wieder?
• Lettland nach der Stunde Null
• Ein lettisches Sommermärchen
• Estland und Lettland – die fremden Freunde
Über den Autor
Dr. Berthold Forssman studierte an den Universitäten Erlangen, Reykjavík und Kiel Skandinavistik (Nordische Philologie), Slawistik und Germanistik und promovierte nach dem Magister in Skandinavistik an der Universität Jena in Indogermanistik über ein Thema zu den baltischen Sprachen. Seit 2002 ist er als freiberuflicher Übersetzer, Journalist und Autor tätig. Er ist staatlich geprüfter Übersetzer und Prüfer und vom Landgericht Berlin ermächtigter Übersetzer für Schwedisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch und Isländisch. Zur persönlichen Website des Autors gelangen Sie hier!